Thomas Mann – ein politischer Aktivist?
Über eine Studie von Kai Sina
Von Günther Rüther
Kai Sina bezeichnet Thomas Mann in der hier angezeigten Studie, die im Jubiläumsjahr des Nobelpreisträgers erscheint, als einen politischen Aktivisten.
Thomas Mann, der Autor der Buddenbrooks, der Königliche[n] Hoheit, des Zauberberg[s], der Lotte in Weimar, der Tetralogie Joseph und seine Brüder, des Doktor Faustus und des Hochstaplers Felix Krull ein politischer Aktivist? Der Leser dieser Romane hält inne. Einige erinnern sich seiner bedeutenden politischen Essays und Reden vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Aber rechtfertigen sie, Thomas Mann einen politischen Aktivisten zu nennen? Ich jedenfalls reagierte zunächst ablehnend. Mich erinnert das Wort politischer Aktivist zu allererst an Umwelt- und Friedensaktivsten, an die ebenso mutigen wie radikalen Männer und Frauen von Greenpeace und anderen verwegenen Protestgruppen. Aber Thomas Mann, der feine Herr aus wohlhabendem großbürgerlichem Hause, der nach seiner Hochzeit mit Katia Pringsheim in den besten Kreisen und Hotels verkehrte, ein überzeugter Monarchist, der im Ersten Weltkrieg mit seinen Kriegsschriften seine Solidarität mit dem Kaiser bezeugte, der verspätete Republikaner, der entschiedene Antifaschist, der dennoch zögerte, sich endgültig Mitte der dreißiger Jahre von der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft abzuwenden, und im amerikanischen Exil in der McCarthy-Ära bespitzelte Bürger der Vereinigten Staaten, der sich rühmte von Präsident Roosevelt ins Weiße Haus eingeladen worden zu sein, ein Aktivist? Nun nach gründlicher Lektüre der Studie bleibt der Eindruck, dass diese Bezeichnung vielleicht doch nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein scheint, wenn man das Leben und Werk Thomas Manns auf einzelne bisher vernachlässigte Aspekte richtet, denen in der Thomas Mann Forschung meist wenig Beachtung geschenkt worden ist, die aber das Gesamtbild abrunden.
Sina entwirft eine Skizze vom politisch handelnden Schriftsteller. Er geht dabei nur am Rande auf seine Romane, Novellen und Erzählungen ein. Stattdessen rückt er seine politischen Essays und Ansprachen in das Blickfeld des Interesses. Aber auch hier hebt er, der Vielzahl seiner Beiträge geschuldet, nur einzelne hervor, die seine These stützen. Seine Kriegsschriften unterzieht er nur beiläufig einer Analyse, obwohl Thomas Mann in diesen Jahren mit seinem unverhohlenen Bekenntnis zum Offensivkrieg des Wilhelminischen Reiches durchaus aktivistische Züge erkennen ließ. In seinen Notizbüchern finden sich an verschiedenen Stellen Anmerkungen zum Aktivismus, die sich allerdings gegen den Pazifismus seines Bruders Heinrich richten. Er sprach in diesem Kontext von einem „Thätertum des Geistes“. Eine Haltung, die er weit von sich wies. Doch wer seine Kriegsschriften liest, gewinnt den Eindruck, dass er sich hier auch eines „Thätertums des Geistes“ schuldig macht.
Auf diesen negativen politischen Aktivismus geht Kai Sina nicht ein. Ihn interessiert viel mehr Thomas Manns positiver politischer Aktivismus in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Er beginnt für ihn im Herbst 1930 als die NSDAP bei der Reichstagswahl erstmals mit 18,3 Prozent unerwartet viele Stimmen gewann. Thomas Mann warnte vor diesem Hintergrund in „Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft“ vor der aufkommenden braunen Gefahr. Er hielt diese Rede im Beethovensaal in Berlin, genau an dem Ort, wo er 1922 seine Bekenntnisrede zur Weimarer Republik vortrug und damit seinen Gesinnungswandel vom überzeugten Monarchisten zum Vernunft geleiteten Republikaner öffentlich machte. Die damalige eindrucksvolle, philosophisch literarisch geprägte Rede endete mit den Worten: „Es lebe die Republik!“.
Was sind nun die Merkmale eines politischen Aktivisten? Sina nennt:
- Das Einschreiten aus einem politischen Anlass heraus, wie die Reichstagswahl 1930.
- Ein handfester Ton bis zur Polemik.
- Der politische Impuls durch eine klare moralische Überzeugung.
- Zielgerichtete Einflussnahme auf die öffentliche Meinung.
Insbesondere der dritte Aspekt ist ihm wichtig, da sich darin Manns moralische Unzweideutigkeit, die seinem politischen Aktivismus zu Grunde liegt, von seinem literarischen Schreiben unterscheide. Vor diesem Hintergrund benennt er das Ziel seiner Studie. Lesen wir den Autor selbst: „Was ich zu schreiben plane, ist ein locker gefügtes Ensemble an Beobachtungen und Überlegungen, die sich in unregelmäßiger Abfolge mit Thomas Manns politischem Handeln im Ganzen und seinem Engagement für den Zionismus im Einzelnen befassen“ (S. 29).
Vor allem sind es zwei Themen, die Kai Sina in den Mittelpunkt rückt. Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Judentum und sein Engagement für den Zionismus. Zweitens die bisher weitgehend unterbelichteten politischen Aktivitäten Thomas Manns während seiner Zeit im amerikanischen Exil. Sie gehen weit über das hinaus, was bisher bekannt war. Studien von Hans Vaget und Heinrich Detering erhellten allerdings bereits diese Grauzone. Sina fühlt sich diesen Forschern verpflichtet. Er selbst leitet an der Universität Münster die „Thomas Mann Arbeitsstelle“.
Thomas Manns Verhältnis zum Judentum hat die Wissenschaft immer wieder beschäftigt, weil es vielschichtig ist. Vor allem seine Erzählung „Wälsungenblut“ spielt dabei eine Rolle, weil er darin weit verbreitete Topoi des Antisemitismus bedient. Auf familiären Druck hin erwirkte er bei seinem Verleger Samuel Fischer, dass die Erzählung nicht veröffentlicht wurde, obwohl sie bereits gesetzt worden war. Später erschien sie aber mit leichten Veränderungen doch. In der Judenfrage bewegte sich Thomas Mann hier und auch später im Mainstream der Jüdischen Debatte im Kaiserreich, der nach unserer heutigen Wahrnehmung antisemitisch war, obwohl die Zeitgenossen damals dies meist nicht so empfanden. In diesem Kontext ist auch Thomas Manns Haltung zum Zionismus und Theodor Herzls Vision vom Judenstaat zu sehen, den er damals ablehnte. Ein Judenstaat „bedeute den Verlust eines ,unentbehrlichen (…) Kultur-Stimulus‘ und wäre somit ,ungefähr das größte Unglück (…), das unserem Europa zustoßen könnte‘“ (S. 39), so zitiert Sina den Nobelpreisträger. Später änderte Thomas Mann seine Einstellung. Seine bis dahin als kultureller Zionismus zu bezeichnende Position schlug im Angesicht des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust in einen politischen Zionismus um, für den es nachvollziehbare Gründe gab. Nur ging Thomas Mann dabei argumentativ über ein vertretbares Maß hinaus. Während Kai Sina Thomas Mann in Teilen immer wieder überaus verständnisvoll begegnet, geht er mit ihm hier hart ins Gericht. In seinem Plädoyer für einen politischen Zionismus bezeichnet Thomas Mann Palästina als einen natürlichen Ort Israels. Er verstieg sich dabei zu der These, dass die Juden zivilisatorisch höherstehend seien als die Araber. Auch wenn diese auf eine zurückliegende große Kultur verweisen könnten, blieben sie heute doch im technischen Zeitalter hinter den Juden entschieden zurück. Sina kommentiert:
Das Recht, sich ein Land zu eigen zu machen, liegt für Mann schlichtweg bei dem, der über die entsprechenden technischen Fähigkeiten verfügt. Von der Sensibilität für die arabischen Belange in Palästina, die ihm Judah Magnes im Zeichen der Brit Shalom vermittelt und für die er selbst öffentlich geworben hatte, ist nun, im Angesicht der Shoa, kaum noch etwas zu spüren. Im Gegenteil. (…). Ein nicht anders als kolonial zu bezeichnendes Denk- und Begriffsmuster übernimmt die Regie (S. 217).
Kai Sinas Analyse zu Thomas Manns Verhältnis zum Judentum verdeutlich, wie sehr dessen Einstellung von Umständen der Zeit geprägt war.
Ein zweiter bemerkenswerter Teil der Studie beschäftigt sich mit Thomas Manns politischem Engagement in den USA. Hier sind zuerst – nicht zuletzt auf Grund des Umfangs, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung – seine BBC-Ansprachen von 1940 bis 1945 an die deutschen Hörer zu nennen. Sina hebt ihren politisch aktivistischen Teil hervor. Der Nobelpreisträger habe dabei auf Wirkung gesetzt. „Sie dienten als ,Gebrauchstexte‘ einer konkreten Aufgabe: der psychologischen Kriegsführung“ (S. 182). Sie entsprechen damit vor allem dem dritten und vierten Aspekt seiner Aktivismus-Definition. Sina vermutet, dass die Literaturwissenschaft deshalb wohl lange Zeit einen Bogen um diese Texte gemacht habe. Sie fühlte sich nicht zuständig. Tatsächlich haben beispielweise nur eine kleine Auswahl von ihnen Aufnahme in die von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski herausgegebenen Essay-Bände gefunden.
Während es Sina in seiner Deutung der BBC-Reden vor allem darum geht, neue Akzente zu setzen, überrascht er mit einer detaillierten Darstellung der bisher kaum wahrgenommenen Lesereisen von Thomas Mann quer durch die Vereinigten Staaten. Sie begannen, noch bevor er von der Schweiz in die USA umsiedelte, und führten ihn von 1938 an quer durch die Vereinigten Staaten. Allein die Tournee im Vorkriegsjahr umfasste 15 Auftritte in 14 Staaten. Er reiste meistens mit der Eisenbahn. Diese Lese- und Vortragsreisen setzte er nach seiner Übersiedlung nach Princeton später nach Los Angeles fort. Sie waren anstrengend und zeitraubend. Zu den Veranstaltungen kamen oft mehrere Tausend Zuhörer und Zuhörerinnen, obwohl sie eine erhebliche Summe Eintritt zahlen mussten. Die Vortragsveranstaltungen waren ein Geschäftsmodell für den Veranstalter wie auch für Thomas Mann selbst, der auf die Einnahmen angewiesen war. Das Themenspektrum war weit gefasst. Es ging dabei um Demokratie, Diktatur, Krieg und Nazideutschland. Sina ergänzt mit der Darlegung dieser Aktivitäten das weitläufig verbreitete Bild von Thomas Mann als im amerikanischen Exil sesshafter Erfolgsautor, der von den Hügeln von Pacific Palisades auf den Pazifik schaute, zurückgezogen lebte und seine Privilegien genoss. Dem Leser seiner Tagebücher aus dieser Zeit drängt sich allerdings auch dieses Bild auf.
Kai Sinas Studie stellt Thomas Mann als politischen Aktivisten dar. Sie markiert damit einen Aspekt, dem bisher wenig Beachtung in seinem Leben und Werk geschenkt wurde. Darin liegt ihr Verdienst. Ein ausgewogenes Gesamtbild des Jubilars, an dessen 150. Geburtstag wir uns in diesem Jahr erinnern, entsteht auf diese Weise nicht. Dies lag auch nicht in Sinas Interesse. Der Buchtitel lautet ja einschränkend „Thomas Mann als politischer Aktivist“. Ob das Etikett des politischen Aktivisten diesem distinguierten, feinnervigen, stets auf Distanz und Form bedachten Schriftsteller gerecht wird, steht auf einem anderen Blatt.
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