Schlafen, vielleicht auch träumen

Theresia Enzensbergers kluge essayistische Erkundungen einer universalen Erfahrung

Von Adela Sophia SabbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Adela Sophia Sabban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alle Menschen schlafen. Wie denken wir über den Schlaf? Wie hängen der Schlaf des Einzelnen und unsere gesellschaftlichen Gegebenheiten zusammen? Sind unsere derzeitigen Deutungen des Schlafens zukunftstauglich? Was passiert in den „Zwischenwelten des Schlafs“, beim Schlafwandeln, bei der Hypnagogie oder auch beim Torpor? Und was ist, wenn man, wie Theresia Enzensberger, nicht schlafen kann?

Antworten auf diese und weitere Fragen finden sich in Theresia Enzensbergers Buch Schlafen – genauer gesagt: diese und andere Fragen werden nach einer Einleitung („Einschlafen“) auf essayistische Weise in den Kapiteln „Leichter Schlaf“ und „Tiefschlaf“ behandelt, die etwa drei Viertel des Buchs ausmachen. Im letzten Viertel folgt dann im Kapitel „Traumschlaf“ eine literarische Auseinandersetzung mit dem Schlaf: eine etwas unheimliche Kurzgeschichte, wie sie in einem Alptraum vorkommen könnte. Die Kapitelüberschriften „Leichter Schlaf“, „Tiefschlaf“ und „Traumschlaf“ bezeichnen die verschiedenen Phasen des Schlafzyklus, den der Mensch vier bis sechs Mal in einer Nacht durchläuft. Als Leser*innen von Enzensbergers Buch durchleben wir gleichsam einen dieser Zyklen; dabei entsprechen den drei Kapiteln drei verschiedene Zugänge, die das kurze einleitende Kapitel „Einschlafen“ erläutert: Im Kapitel „Leichter Schlaf“ thematisiert Enzensberger die Normierungen des Schlafs durch unsere Lebens- und Arbeitswelt und hinterfragt die Ansicht, wonach Schwäche ein Zustand ist, den es unbedingt zu vermeiden gilt. Das ist der Teil, schreibt Enzensberger in der Einleitung, „der am weitesten in die Gefilde von Politik und Theorie vordringt“ (S. 11). Denn „[d]er leichte Schlaf ist auch die Phase, in der Zähneknirschen auftritt, und das könnte ja nicht passender sein für einen politischen Essay“ (ebd.). Das Kapitel „Tiefschlaf“ unternimmt dann, ausgehend von Enzensbergers eigener Schlaflosigkeit, Erkundungen in Literatur, Kunst und Popkultur. Dort ist, wie Enzensberger feststellt, entweder die Abwesenheit des Schlafs Thema oder aber der Inhalt des Schlafs, der Traum. Ihre Erkundungsgänge führen sie auch in die „Zwischenwelten des Schlafs“, zu Themen wie etwa dem Schlafwandeln oder auch dem Winterschlaf. Politisch-gesellschaftliches und theoretische Aspekte stehen in diesem Kapitel weniger im Vordergrund. Es ist ein persönlicheres Kapitel, in dem wir auch einiges über die Schlaflosigkeit der Autorin lesen. Das letzte Kapitel mit der Überschrift „Traumschlaf“ enthält eine albtraumhafte Kurzgeschichte: Der Protagonistin der Kurzgeschichte widerfährt – ähnlich wie in der Kurzgeschichte „The Swimmer“ von John Cheever aus dem Jahr 1964 – eine unheimliche, existentielle Veränderung.

Theresia Enzensberger auf ihren Exkursionen in politisch-theoretische Gebiete, auf den Gängen durch die Kunst und Popkultur und bei den Erkundungen der Zwischenreiche des Schlafs zu begleiten, bereitet Vergnügen. Schlafen bietet eine abwechslungsreiche Lektüre, und das nicht nur deshalb, weil die drei nach den Schlafphasen benannten Kapitel sich dem Thema auf drei verschiedene Weisen zuwenden. Sondern auch wegen der Vielfalt an Überlegungen, Erkenntnissen und Argumenten aus verschiedenen Themenbereichen und Diskursen, aus denen sich die Kapitel „Leichter Schlaf“ und „Tiefschlaf“ zusammensetzen. Die Art und Weise, wie Enzensberger diese Bestandteile klug und interessant miteinander verknüpft, zeugt vom essayistischen Können der Autorin. Im Kapitel „Leichter Schlaf“ etwa befasst Enzensberger sich zunächst mit dem Stellenwert des Schlafs in kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, wie ihn u.a. Marx bestimmt. Doch belässt sie es nicht bei einer wirtschaftstheoretischen Perspektive, sondern verfolgt die gesellschaftliche Dimension des Schlafs ansetzend am Stichwort „Schwäche“ weiter. Damit knüpft Enzensberger an feministische Konzepte von „Verletzlichkeit“ an. Schlaf stelle, schreibt Enzensberger, eine Form von Schwäche dar, denn wenn wir schlafen, vertrauen wir uns der Obhut Anderer an, sind wir verletzlich und schutzlos. Doch gelte es, Schwäche zuzulassen – sowohl die eigene als auch die der Anderen (vgl. S. 51), denn das gesamte menschliche Zusammenleben bestehe aus „Relationen der Fürsorge“ (S. 41). Dass letzteres immer wieder geleugnet werde, verdeutlicht Enzensberger auch an Beispielen aus der Zeit unmittelbar nach der Corona-Pandemie (vgl. ebd.). Weil es also darauf ankommt, Schwäche zuzulassen, will Enzensberger den Schlaf, wie sie im letzten Absatz des Kapitels „Leichter Schlaf“ schreibt, „als positiven Ausdruck von Schwäche“ betrachten. Denn alle Menschen schlafen: „Jeder Mensch gibt sich dieser Schutzlosigkeit nachts hin, die Universalität der Erfahrung straft die Erzählung von der Unbarmherzigkeit als einziges Mittel zum Überleben Lüge.“ (S. 56)

Weil all dies einleuchtend dargelegt ist, überzeugt es auch, wenn Enzensberger im Hinblick auf den Klimawandel die Notwendigkeit anspricht, Schwäche zuzulassen und wechselseitige Abhängigkeiten anzunehmen – was einem Appell gleichkommt:

In Zeiten der Klimakatastrophe werden mehr und mehr Menschen auf Hilfe und Zusammenarbeit angewiesen sein. Eine sozialdarwinistische Politik der Eigenverantwortung ist den Katastrophen der Zukunft nicht gewachsen. (S. 49)

Diesem Appell zu folgen, ist zu empfehlen, aber auch, Theresia Enzensbergers Schlafen zu lesen.

Titelbild

Theresia Enzensberger: Schlafen.
Hanser Berlin, München 2024.
112 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279629

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