Ein Wolf im Ferienlager

Saša Stanišić erzählt in seinem mehrfach ausgezeichneten Kinderbuch „Wolf“ von Ausgrenzung und Schikane, Mut und Freundschaft

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kemi kann es ja verstehen, auch wenn er zuerst wütend ist: Da hat ihn seine Mutter in einem Ferienlager im Wald angemeldet, ohne ihn zu fragen. Die Unterhaltung fängt mit „übrigens“ an: „Sätze, die meine Mutter mit ‚übrigens‘ beginnt, enden nicht gut für mich.“ Aber es geht nicht anders: In der ersten Ferienwoche kriegt sie keinen Urlaub, und zur Oma kann er nicht: „Oma macht Malkurs in Malente“, sagt sie. Vom Vater ist sie lange geschieden.

Ferienlager ist schon schlimm, aber Ferienlager im Wald findet Kemi noch viel schlimmer: „Ich finde Bäume nur als Schrank super“, sagt er. Aber dann wischt seine Mutter sich eine Strähne aus dem Gesicht: „Die Geste macht, dass sie komplett müde aussieht.“ Also fügt er sich seufzend in sein Schicksal, denn die Alternative, Ferienbetreuung in der Schule, hat er schon mal gemacht, das war ganz schrecklich. Und er weiß, dass sie es auch nicht einfach hat: „Seit wir zu zweit sind und alles zu zweit wuppen, muss Mutter superviel arbeiten. Ihr bleibt wenig Zeit und Kraft für sich. Dass sie Pläne gemacht hat, Pläne ohne mich finde ich okay. Mütter sind okay.“

Mit Wolf hat der preisgekrönte Autor Saša Stanišić seinen ersten Jugendroman geschrieben. In ihm erzählt Kemi von seiner Woche im Ferienlager, wo er zunächst alles schrecklich findet, schon vorher weiß er, was auf ihn zukommt: Klopapierfetzen auf dreckigen Fliesen im Klo, stechende Mücken, Lagerfeuer mit Folienkartoffeln. Die Betreuer sind eine junge Frau mit Dreadlocks, ein junger Mann mit Ziegenbart, ein Rentner, eine tätowierte Zora und ein Piet, der eigentlich Pietritsch heißt. Und auch die Mitschüler sind so schlimm wie erwartet – denn Kemi ist ein Außenseiter. Und es wird genauso schlimm wie erwartet, die Betreuer versuchen, sie zu bespaßen, sind aber oft selbst lustlos oder noch schlimmer: Als Bella etwas Stimmung mit der Gitarre machen will, fragt sie Sinan, ob sie nicht ein Lied aus ihrer Heimat kennt, fragt die zurück: „Aus Pinneberg?“ Nein, aus der Türkei. „Meine Eltern sind aus Albanien“, sagt Sinan. Der alltägliche Rassismus…

Dann gibt es Schmetterlinge fangen, Basteln, Nachtwalk, Wanderung zum Wasserfall, Kemi durchschaut das Erziehungsferienprogramm, mit dem er zu einer Gruppe gehören soll, die sowohl ihn als auch Jörg ständig mobbt. Auch Jörg ist ein Außenseiter, gehört zu keiner der Gruppen dazu, die sich schnell bilden. Redet nicht in der angesagten Jugendsprache, zeichnet gern und ist von der Natur ganz begeistert, die er genauestens beobachtet. Und so teilen sie sich ganz automatisch ein Zimmer. „Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Man kann jemanden nämlich absichtlich verandern. Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein“, schreibt Kemi. Vor allem Marko und seine Freunde, die immer nur gemeinsam auftauchen, ärgern sich und mobben ihn: „Dass da also einer allein sein kann und zufrieden ist – das lassen die nicht zu. Der soll allein sein, aber nicht zufrieden.“

Ohne zu pädagogisieren, lässt Stanišić seinen Helden erzählen und gleichzeitig das Erzählen reflektieren: Etwa in der Mitte des Buchs sagt Kemi, dass es ein Happy End nicht geben wird, weder wird Jörg irgendwann beliebt, noch entschuldigen sich die Mobber. Und macht damit deutlich, dass man sein Leben als Geschichte erzählt und sich dann eben auch aussuchen kann, wie man es erzählt, als Opfer oder Besserwisser, als Guter oder als Held. Auch die vorkommenden Tiere, der Hirsch Dietmar und der titelgebende Wolf, der mal nachts, mal tagsüber erscheint, mal heult oder sich mit seinen gelben Augen ans Bett setzt, sind jetzt Teil einer Geschichte: „Der Wolf ist groß, der Wolf ist schlank, der Wolf ist grau. Der Wolf leckt sich über die Schnauze. Guckt aus gelben Augen. Der Wolf atmet über eine Atemraspel.“ Es wird nicht ganz klar, was er will. Soll Kemi sich wehren, ihn vertreiben, ihn als Freund und Begleiter akzeptieren?

Und auch die Aktivitäten des Ferienlagers werden nach und nach umgewertet: Jörg zeigt ihm, wie spannend eine Schmetterlingsjagd sein kann, als er ihm einen Gelbwürfeligen Dickkopffalter schenkt. Und dass sie alle beide anders sind oder „andersig“, wie Kemi sagt, ist dann auch nicht mehr so schlimm. Der Wolf ist dafür eine wunderbare Metapher, der in dem Erzählungsgewebe ganz normal erscheint. Und so erzählt der Roman eine Geschichte von Mobbing, Angst, Mut und Freundschaft, Zivilcourage und Angst, Veränderung und Selbstermächtigung, und das ohne jemals mit dem erhobenen Zeigefinger zu winken oder zu drohen. Stanišić ist dabei so witzig und fantasievoll wie immer und beherrscht auch die verschiedenen Ebenen der Sprache, ist leicht und luftig, ernst und humorvoll, wenn er etwa ganz treffend schreibt, „die Aktivitäten-Hölle brät uns gnadenlos weiter“. Dabei hat das Buch wirklich kein „richtiges“ Happy End, dennoch hat sich etwas zum Guten verändert.

Für Wolf hat Stanišić ganz zu Recht den Deutschen Jugendliteraturpreises 2024 in der Sparte Kinderbuch gewonnen.

Titelbild

Saša Stanišić: Wolf.
Mit Bildern von Regina Kehn.
Carlsen Verlag, Hamburg 2023.
160 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783646937879

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