Mutter hilft immer

In seinem Roman „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von persönlichen Krisen und wie ihm die Mutter hilft, wieder Boden zu spüren

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die einen kennen Joachim Meyerhoff als überzeugenden Schauspieler am Burgtheater in Wien, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Hamburg oder an den Münchner Kammerspielen. Andere wiederum verehren den Schriftsteller Joachim Meyerhoff, der 2011 den ersten Band seines mehrteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“ veröffentlichte. Im November 2024 erschien Teil 6 unter dem Titel „Man kann auch in die Höhe fallen“. Mit den Nerven am Ende und nach einem Ausraster am Geburtstagsfest seines Sohnes erkennt der Ich-Erzähler, in dem unschwer der Autor zu erkennen ist, dass es so nicht weitergehen kann. Er wird zu einer Belastung für Frau und Kind und entschließt sich, vorübergehend zu seiner Mutter aufs Land zu ziehen, um an einem Romanprojekt über das Theater zu arbeiten, aber auch, um der 86-Jährigen in Haus und Garten behilflich zu sein. Dass diese Rollenverteilung nicht ganz so eindeutig sein wird, versprechen schon die ersten paar Seiten. Der Ich-Erzähler muss sich eingestehen, dass seine Mutter keine Unterstützung brauchte, sie war „kerngesund, offensiv vital, sah mit ihren sechsundachtzig Jahren fantastisch aus und kam bestens alleine zurecht“. Wir erfahren – im neuesten Band nur zusammenfassend wiedergegeben, nachzulesen jedoch in Teil 5 –, dass er fünf Jahre zuvor nach einem Schlaganfall, „der mich in Wien auf dem Zenit meiner Kraft niedergestreckt hatte“, in Berlin einen Neuanfang machen wollte, was ihm aber nicht gelang, die Stadt und er konnten es nicht miteinander.  

Während des selbstauferlegten Erholungsaufenthaltes zu Hause bei Muttern erlebt Meyerhoff zum einen eine Geborgenheit, an die er beinahe nicht mehr geglaubt hatte, zum anderen fordert ihn die alte Frau auch tüchtig heraus. Denn sie lässt ihn nicht in seinen Stimmungen versinken, sondern weist auf wunde Punkte hin – oftmals einfach dadurch, dass sie ausspricht, was er zu sehen sich weigert. Ihr gegenüber kann und darf er alles sagen, manchmal noch bevor er sich seine unmögliche Lage selbst eingesteht. Sowohl körperlich wie seelisch angeschlagen, muss er ihr gegenüber kein Blatt vor den Mund nehmen: „Es ist alles so beschissen, Mama, so unendlich beschissen.“ Doch zum Glück bleibt er nicht im Schimpfen gefangen. Die Selbstverständlichkeit, mit der seine Mutter ihr Leben lebt und immer gelebt hat, beeindruckt ihn tief. Ebenso, wie sie ihn auch jetzt annimmt, ihn liebt, den Sohn, gerade wenn sie ihn konfrontiert mit Eigenschaften und Verhaltensweisen, die für ihn letztlich schädlich sind.  

Das Zusammensein mit der Mutter bringt Momente der Nähe, die er zu genießen lernt, etwa wenn die beiden „saunarosig beim Whisky im sogenannten Backhaus zusammen(saßen)“. Oder aber, wenn er sein Geburtstagsgeschenk einlöst: eine einstündige Fußreflexzonenmassage, bei der sich die alte Frau als erstaunlich kräftig zeigt, die sich von keinen empörten Schreien des Sohnes beeindrucken lässt. 

Es kam mir so vor, als würden ihre Daumenkuppen durch die Haut in den Fuß eindringen und direkt meine Nerven zerquetschen. Der ganze Fuß verschwand in diesem Schmerz, und in meiner Brust pochte es wild. „Stopp! Bitte, Mama. Hör auf!“ “Ich hab es gleich. Reiß dich zusammen!“ Ich warf mich hin und her im mütterlichen Daumenschraubstock. (…) „Und?“, fragte sie mit liebevoller Stimme, schenkte sich vom Rotwein nach. „Geht’s?“ Es war eigenartig, ganz deutlich fühlte ich eine lange vermisste Weite in meiner Brust. Die Luft strömte tiefer, das Herz hatte deutlich mehr Raum und die Rippen erweiterte Zwischenräume. 

Der Ich-Erzähler will aber auf dem herrlichen Grundstück in Norddeutschland nahe vom Meer sein Vorhaben, an einem Roman über das Theater zu arbeiten, unbedingt weiterverfolgen.  

Und ich schrieb. Tag für Tag bastelte ich an meinen Geschichten herum. Zu meinem ursprünglichen Plan, über das Theater zu schreiben, gesellten sich Kindheitserinnerungen und Muttergegebenheiten. Ich war dankbar, sobald eine Geschichte mich trug und ich mich in ihrer Strömung durch die Sätze treiben lassen konnte. 

Kostproben dieser Schreibarbeit sind im Buch zu lesen, und sie zu lesen sind eine Freude. Sie haben eine Leichtigkeit, die mitreißt, und gleichzeitig führen sie in eine Tiefe, die die Augen öffnet und Erkenntnisse ermöglicht. Meyerhoffs geschmeidige Erzählweise erlaubt den Leser:innen, in dieses Leben einzutauchen. Dabei vermeidet der Erzähler Larmoyanz ebenso wie Überheblichkeit. Vielmehr ist da auch immer wieder ein Augenzwinkern zu spüren. Humor und (Selbst-)Ironie fehlen ebenso wenig. Es wird zur Selbstverständlichkeit, dass das Private, das viele Schwächen offenbart, an die Öffentlichkeit gehört. Hier gelingen Meyerhoff eindrückliche Einblicke in Welten, in denen das größte Glück gleich neben dem tiefsten Absturz liegen. Daneben oder darüber steht eine Mutter die es ihrem inzwischen 56-jährigen Sohn ermöglicht, Entscheidungen zu treffen, die schmerzen mögen, aber lebensnotwendig sind.  

Es geht einfach nicht mehr, das hab ich jetzt begriffen. Durch dich. Danke, Mama.“ Die alte Frau strahlt, und wir Leser:innen glauben ihr aufs Wort, wenn sie daraufhin sagt: „‘Ich mache, was ich will, und je älter ich werde, desto glücklicher werde ich. Jeden Tag werde ich ein wenig froher.“ 

Das könnte doch ein Vorsatz sein fürs Alter und lässt sich in jüngeren Jahren schon mal üben.

Titelbild

Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
368 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783462006995

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