Die Gnade verwandelnder Verzweiflung

Saskia Hennig von Lange gelingt in „HEIM“ das Kunststück, unverkrampft und literarisch über generationsübergreifende Traumata zu schreiben

Von Annette van den BerghRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annette van den Bergh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Still und stetig will ich werden, leis und lieblich, flink und fein, um mit Mut ein Mensch zu werden, und mit Maß ein Mensch zu sein.

Gleich auf einer der ersten Seiten in Saskia Hennig von Langes neuem Roman HEIM werden die Leser mit diesem – nennen wir es „Sprüchlein“ – konfrontiert. Die kleine Hannah sitzt da auf dem Schoß eines Freundes der Familie, der Vater Willem versucht derweilen dem quirligen, zappelndem Mädchen die Haare zu schneiden. Sie soll fein gemacht werden für die große Fahrt, für ihren Beginn in der „Schule“. Für diese Schule, die eigentlich ein „Heim“, eine „Klinik“ für „geistesgestörte“ Kinder ist, lernt das siebenjährige Mädchen diese Zeilen auswendig, die ihr selbst schön wie ein Gedicht erscheinen und das sie ganz rasch tief und innig in einer ihrer vielen „Kopfschachteln“ aufbewahrt. Später, auf der Fahrt in ihr neues „Heim“, wird sie sogar mit dem Vater lauthals die Worte zu singen versuchen, auch wenn es ihr nicht möglich sein wird, mehr als ein kaum verständliches Brummen von sich zu geben: “Mutamensch, Mutamensch!“ Willem trommelt dazu mit den Fingern auf das Lenkrad des Wagens. Tilda, die Mutter, hält sich die Ohren zu.

Wenig später werden die Eltern hinter ihrem Kind herschauen,

als Hannah an der Hand der Schwester schon längst in der Villa, mehr ein Schloss, mehr eine Burg als eine Villa, als sie schon längst in dieser Festung verschwunden war. Die Schwester trug den Koffer und Hannah hüpfte und schlingerte neben ihr, ab und an schlug sie sich auf den Kopf.

Hannah hat eine frühkindliche Hirnschädigung erlitten und dadurch sowohl autistische Züge, als auch schwere, entwicklungsstörende Defizite entwickelt. Ob gar eine Verzweiflungstat der überforderten Mutter an der Schädigung des Kindes beteiligt war, bleibt in diesem Buch offen, wird allerdings mehrmals als Möglichkeit angedeutet. Etwas stimmt nicht mit dem Kind, so viel ist rasch klar. So wie auch mit dem Vater, der Mutter und deren Beziehung zueinander etwas nicht stimmt, auch wenn die Dinge hier anders liegen als bei Hannah.

HEIM ist eine Familiengeschichte. In dieser Geschichte geht es um drei Personen, die da ganz klassisch sind: der Vater, die Mutter, das Kind. Diese Familiengeschichte reiht sich in eine mittlerweile häufig vorkommende Literatur ein, die das Thema der generationsübergreifenden Traumata aufgreift und dieses der Leserschaft mehr oder minder eindringlich nahebringen möchte.

Darunter gibt es einige extrem erschütternde, erhellende Bücher wie zum Beispiel die autofiktional daherkommende Erzählung vom Schweigen von Katharina Peter, die 2023 bei Matthes & Seitz erschienen ist und die der Rezensentin während der Lektüre von HEIM immer wieder begleitend oder erläuternd in Erinnerung kam. Gleichzeitig kann aber auch von einem gewissen Trend, einer literarischen Mode gesprochen werden, die natürlich manchmal Bücher kreiert, in denen die Sicht auf Vergangenes allzu appellativ an die Leser gebracht werden soll.

HEIM verzichtet dagegen wohltuend auf jedwede Art von meinungsbildender Manipulation. Das Buch begnügt sich mit der Verdichtung der Geschichte seiner Protagonisten, zieht mehr und mehr durch die Intensität der Sprache in diese hinein und bringt am Ende, ohne die Leser oder die Protagonisten zu schonen, sogar eine Art Katharsis mit sich. Indem die Autorin dieser Familie eine große Krise, einen großen Schrecken (auch durch die Schuld der Eltern an Ihrem Kind) zugesteht, führt sie diese an ihre Abgründe heran, lässt sie schaudernd stehen und sehen und bringt sie damit in eine Entwicklung hinein, die am Ende nicht nur Hannah befreit.

Bis dahin allerdings tut es weh, die Protagonisten in ihrem Leben zu begleiten. Da sind zunächst Tilda und Willem, die sich auf weiter See (auf einem großen Vergnügungs-Schiff) zu Beginn des 2. Weltkriegs begegnen. Willem, der schneidig auftretende „Held“, unterwegs als Kampfpilot in geheimer Mission („Legion Condor“), erscheint der jungen Tilda als „Ausweg“, als mitreißendes Abenteuer, das aus der spießbürgerlichen Enge der Familie in eine grenzenlose Weite führen soll. Zunächst verlieren sich die beiden aus den Augen. Sie überlebt die Bombenangriffe in engen, lauten Kellern. Er hat inzwischen sowohl ein privates als auch ein weltanschauliches Desaster überleben müssen. Später  heiraten sie und bekommen ihr Baby. Es sind die 50er-Jahre, die Bundesrepublik erholt sich langsam aus den Trümmern, man ist stolz auf sein Häuschen, den hübschen Garten davor. Aus der Verdrängung erwächst neues Leben, weit, weit entfernt von ehemaligen Träumen nach Selbstverwirklichung und Wahrhaftigkeit.

Willem lebt als Chemiker, der künstliche Fruchtaromen herstellt, zunehmend in der Isolation einer „inneren Emigration“ und verkriecht sich im Hobbykeller des Hauses, während in der oberen Etage das Geschrei der überforderten, allein gelassenen Tilda mit ihrem andersartigen Kind zu hören ist. Die kleine Hannah dagegen lebt in ihrer eigenen, eigentlich sehr nachvollziehbaren Welt. Aus der seelischen Isolation, der Sprachlosigkeit der Eltern, ist in dem Kind eine völlige Abkapselung von der Umwelt erwachsen. Das Kind, das außer Kontrolle geraten das weggesperrte Innere der Eltern repräsentiert, indem es brummelnd, sabbernd und zappelnd die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft erregt: „das Kind muss weg. Die Nachbarn gucken und reden, ich traue mich nicht mit ihr hinaus. Wie sie neben mir schlingert und hüpft, wie ein kaputtes Nachziehtierchen.“ Auf Tildas Gedanken folgen Taten. Hannah verschwindet im „Heim“, nachdem die Familie nicht in der Lage war, ein wirkliches Heim als Heimat zu kreieren.

Saskia Hennig von Langes Sprache ist reich, subtil, vielseitig und musikalisch. Die Geschichte dieser Familie, die eine Entwicklungsgeschichte werden wird, nimmt abwechselnd die Perspektive von Willem, Tilda oder Hannah ein, wobei nur Hannahs inneres Erleben in der 1. Person Singular geschrieben ist. Die Perspektivenwechsel und Zeitsprünge gelingen wunderbar, fließend durch Zeit, Raum und darin befindliches Personal. Ein wiederkehrendes literarisches Stilmittel, das die Autorin vortrefflich beherrscht und das verdichtend die tiefe Verbindung der drei Hauptpersonen, aber auch der verschiedenen Zeitebenen anzeigt, liegt in der Wiederholung einzelner Bilder. Immer wieder wird Hannah das Haar geschnitten, gegen deren Willen die „wilden Haare“ gebändigt. Tilda wird im Laufe der Geschichte zum Friseur gehen, um sich die langen Haare abzuschneiden. Und Willem, vor dem Spiegel über sein Antlitz erschreckend, überlegt, wie er die „Büschel“ über seinen Ohren entfernen könnte.

Ein ebenfalls wiederkehrendes Grundgefühl, das die Familienmitglieder trotz aller Vereinzelung vereint, ist der Wunsch nach dem „Verschwinden“, dem unsichtbar sein. „Aber Tilda will nicht mehr gesehen werden. Sie will verschwinden, unsichtbar sein, auch für sich selbst.“

Weit expliziter noch zeigt sich das Bild der Auflösung bei Hannah, der Weggesperrten:

Manchmal taucht jemand auf, steht neben dem Bett, lockert die Gurte und zieht sie wieder fest, gibt mir etwas zu trinken, eine neue Spritze, dann ist er wieder fort. Und ich bin es auch, bin ganz verschwunden. Bin nur noch die Decke, die auf mir liegt.

Willem, der sowieso nur in seinem Keller zwischen den Jazz-Platten so etwas wie Lebendigkeit empfindet, schafft es im Laufe des Buchs nicht mehr, in seine Träumereien zu flüchten. Die zunehmende Krisis mündet in eine Depression.

Aber dieser Willem ist nicht mehr da. Und Hannah auch nicht, wenn auch auf eine andere Art, denkt Tilda jetzt. Und sie denkt, dass es gut so ist. Dass das ja niemand aushalten kann, so einen abgestorbenen Willem.

Saskia Hennig von Lange führt die Leserschaft nah an ihre Protagonisten heran, zwingt dazu, deren subjektives Erleben hautnah als ein eigenes fühlen zu müssen. Durch diesen Kunstgriff gelingt es ihr – ohne distanzierende Erklärungen – deren Handeln, Denken und deren Empfindungen sehr verstehbar werden zu lassen, wenngleich auf eine eher instinktive, intuitive Art und Weise. Sie schützt ihre Protagonisten so vor einem (ver-)urteilenden, einem kühlen und besserwisserischen Blick. Die Familiengeschichte entwickelt sich ganz und gar aus der Dynamik der jeweiligen psychischen Disposition heraus sowie aus den gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der umrissenen Zeit. Da ist nirgends ein bloßstellender Zeigefinger sichtbar. HEIM will nichts anderes sein als eine unendlich berührende, traurige und dennoch Hoffnung gebende Familiengeschichte.

Und doch greift die Autorin sehr bewusst in ihre Trickkiste, wenn sie Tilda und Willem die Gnade einer tiefen Lebenskrise schenkt, die durch das Ahnen um Hannahs Leid ausgelöst wird. Sie legt ihren Figuren nicht wünschenswertes, heutiges in den Mund, nimmt ihnen auch nicht ihre Schuld, zeigt aber auch keine Empörung über die Täterschaft. Stattdessen gibt sie ihnen die Zeit für nachvollziehbare psychische Abläufe und innere Entwicklung, führt sie also aus der Erstarrung heraus durch den Sumpf des Verdrängten, um in der Akzeptanz so etwas wie Lebendigkeit zu finden.

Noch Tage nach der Lektüre von Heim, glaubte die Rezensentin manchmal das Summen, Brummen und Hüpfen von Hannah zu vernehmen. Die Zärtlichkeit, die Zerbrechlichkeit und auch die (trotzige) Lebensfreude, die in dieser Gestalt gefunden wird, ist ein literarisches Geschenk der Autorin. In Hannah liegt das Unkontrollierbare (das Beängstigende des Lebens) neben dessen amoralischer Unschuld. Den Zauber, die Einzigartigkeit dieses Kindes so glaubwürdig zu schildern, ohne die Schwere der Last durch die geistige Beeinträchtigung zu beschönigen, ist glänzend gelungen. Ein Hoch auf Hannah!

Titelbild

Saskia Hennig von Lange: Heim. Roman.
Jung und Jung, Salzburg 2024.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990274033

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