Der Weg der Deutschen in die Neuzeit

Mit „Die Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts“ gibt Andreas Erb einen umfassenden Überblick

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Ausgang des Mittelalters, zwischen Feudalismus und Kapitalismus, weltlichen Fürsten und Kurie, ist das Europa der Neuzeit ganz wesentlich mitgeschaffen worden durch die vielen Vereinigungen und Gesellschaften, die den Aufbruch aus der katholischen Kirche als Monopol der Weltauslegung in die Welterklärung der Wissenschaften, des Theaters und der Literatur geleistet haben. Die Vielfalt lässt einen erstaunen: Es gab wissenschaftliche Gesellschaften – vor allem für die Naturwissenschaften –, Theatergesellschaften und Musikzirkel, Gesellschaften für Beredsamkeit oder für die deutsche Sprache, Geheimgesellschaften und Logen, einfache Teegesellschaften, Kaffeekränzchen und „Taback“-Kollegien. Durch die halb privaten, halb öffentlichten Frauensalons brachen Frauen in die Öffentlichkeit auf und in den privaten Vereinigungen mit Ausstrahlung in eine regionale oder deutschlandweite Öffentlichkeit kamen Bürgertum und Adel zusammen, entwickelten neue Vorstellungen von Welt, von Natur, Gesellschaft und Geschichte. Die vielen Logen wie etwa die Freimaurer oder die Illuminaten zeigten die Zusammenarbeit über alle Standesgrenzen hinweg. Der gemeinsame Zentralbegriff für diese Sozietäten ist „Geselligkeit“, „egalitäre Geselligkeit“, „Vorzimmer einer entwickelten demokratischen Gesellschaft“.

Die Tätigkeiten der Gesellschaften standen im Zusammenhang mit der Entfaltung einer nicht von den Herrschern regulierten öffentlichen Publizistik von Tages- und Wochenzeitungen, Flugblättern, wissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern.

Aus der Vielfalt der Sozietäten wählt Erb die „Deutschen Gesellschaften“ aus, erfasst in 31 Städten 37 Vereinigungen und stellt in sieben Kapiteln deren Struktur, Tätigkeiten und Wesen dar. Er strebt „eine histoire totale der Sozietätsbewegung  ‚Deutsche Gesellschaft‘“ an und versteht sein Buch als wichtigen Schritt dorthin – wenn nicht gar schon als das Resultat. Und er will die Bedeutung der Deutschen Gesellschaften für „die Moderne“ herausarbeiten.

Ihren Impuls empfingen die Deutschen Gesellschaften aus dem Ersetzen des Lateinischen als verbindlicher Gelehrtensprache durch die Nationalsprachen, eine Bewegung, die von England und Frankreich ausging. Beim Wort „deutsch“ legt sich Erb auf die Bedeutung „deutsche Sprache“ fest. „Unter Deutschen Gesellschaften ist eine Bewegung aufgeklärter Sozietäten im deutschen Sprachraum zu verstehen, deren […] erklärtes Ziel und Tätigkeitsschwerpunkt die Pflege der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit ist.“ „Deutsch“ war der Terminus gegen das Lateinische.

Ein Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts:

Würde man anfangen, die theoretischen Wissenschaften in gutem reinen Deutsch vorzutragen und sowohl mündlich als auch schriftlich suchen begreiflich zu machen; Ich wette, es würden der Stümper weniger werden, und die Kirchhöfe würden nicht mehr durch Verwahrlosungen so ungewaschener Hände angefüllet werden.

Das sagt Friedrich Börner, Mitglied der Helmstedter Deutschen Gesellschaft 1752, zur Vorstellung eines Autors, der sich für auf Deutsch geschriebene Arzneibücher einsetzt. „Die Langlebigkeit der Opposition von lateinischem Katholizismus und deutscher Nationalliteratur überdauerte die Deutschen Gesellschaften, wurde selbst von den katholischen Aufklärern übernommen und zählte lange zu den feststehenden Topoi einer jeden Literaturgeschichte.“

Schwerpunkte des Wirkens

Die Tätigkeit der Deutschen Gesellschaften bestand im interkonfessionellen, philosophischen, moralischen und vor allem empirischen Zugriff auf die Welt, in Vorträgen abgehandelt, die diskutiert wurden. Gebildete aller Stände: Adel und städtisches Patriziat, Ärzte, Lehrer, Soldaten, Verwaltungsjuristen,Pfarrer und Professoren waren Mitglieder. Die meisten hatten Hochschulen besucht, Studenten, Schüler von Lateinschulen und fertige Akademiker bildeten das Gros. Die „Illiterati“ waren meist die ZuhörerInnen. Denn auch  Frauen, die ja weder Lateinschulen noch Universitäten besuchen durften und sich Bildung über Privatlehrer und durch eigene Lektüre aneigneten, waren dabei.

Der Schwerpunkt der Gesellschaften lag in den protestantischen Ländern im mittel- und norddeutschen Raum, die Mitglieder waren überwiegend Protestanten, aber es gab auch katholische Mitglieder.

Die Vorträge fügten sich ein in die Umgestaltung der Weltsicht, weg von der christlich katholischen Dominanz der Welterklärung, hin zur empirisch wissenschaftlichen Erfassung der Welt. Einen breiten Raum nahmen die Kategorien des „guten Geschmacks“ und der Moral unter dem Leitbegriff „Tugend“ ein. Nach Einschätzung von Erb stellten die gehaltenen und gedruckten Vorträge keine wissenschaftlichen Spitzenleistungen dar. 

Erb setzt mit seinem Buch den Beginn der Sozietätsbewegung mit Gottscheds Reform der Leipziger Deutschen Gesellschaft im Jahr 1727 an. „Der Zenit ihrer Bewegung liegt deutlich vor der zunehmenden Politisierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts“. Ende dieses Jahrhunderts sinkt die Bedeutung. Im 20. Jahrhundert sind Literarische Gesellschaften dominant.

Da es „kein Manifest der Deutschen Gesellschaft“ gibt und „keinen Gründungsaufruf“, „keine allein gültige Programmschrift“, sind strukturelle Gemeinsamkeiten nur schwer festzustellen. Erb konzentriert sich auf herausragende Beispiele wie Gottscheds Leipziger Gesellschaft, die offenbar deutschlandweit eine Vorbildfunktion hatte, die Göttinger, die Erlanger und die Straßburger Gesellschaft, hier auf dasWirken von Jacob Michael Reinhold Lenz. (Dass Jacob Michael Reinhold Lenz bei insgesamt elf Zitaten einmal zu „Jakob Michael Reinhard Lenz“ verändert wird, ist nur ein Lapsus. Wer auf dem neuesten Forschungsstand ist, muss aber Jacob mit „c“ schreiben)

Neu an dieser Art der Zusammenkunft war, dass die Mitgliedschaft, anders als bei Korporationen wie Zünften oder Gilden, freiwillig war und neue Mitglieder durch Alte ausgewählt wurden. Wer dabei war, musste aktiv sein:  Von einem Mitglied wurden „regelmäßig eigene sprachlich-dichterische Beiträge“ erwartet.

Die Mitgliedschaft wurde kollektiv beschlossen, es gab Abstufungen vom ordentlichen Mitglied bis zum Aspiranten, aber keine Hierarchien. Alle Mitglieder, Adelige wie Bürgerliche, Akademiker wie Unstudierte, Männer wie Frauen waren gleich berechtigt. Das hört sich nach demokratischen Formen an. Erb betont aber, dass es dennoch Rangunterschiede gab, nach Länge der Mitgliedschaft – „Anciennität“ – und nach Zulassung zu Vorträgen.

Beim Umgang der Mitglieder miteinander stand die Freundschaft ganz oben an. Moral und wissenschaftliche Bildung hatten ebenfalls einen hohen Rang. „Diese Gesellschaft soll sowol eine Schule der Tugend, als der Gelehrsamkeit seyn“, steht in den Statuten der „Teutschen Gesellschaft“ Erlangen. Religiöse Ziele fehlen. Zur Repräsentation gehörte eine Vignette mit symbolischer Bedeutung, die das Titelblatt der geschriebenen oder gedruckten Satzung zierte.

Erb bringt ein Beispiel aus Zürich, wo das „Gesetz der Wachsenden Gesellschaft“ eine Vignette mit Doppelbaum ziert, umrahmt von einen Oval von Blätterkranz.

Obwohl verbal gegen Pedanterie der Gelehrten gekämpft wurde, reichte ein freundschaftlicher gelebter Verkehr nicht, sondern die jeweiligen Ziele fanden ihren Niederschlag in Satzungen, die sich alle Gesellschaften gaben. In diesen legten sie Zielsetzung, Umgangsform und Ämter fest und verteilten  „Schreib- und Organisationsarbeiten“. „In Jena ermahnte man 1733 die Mitglieder, ‚künftig in dem Beurtheilen ordentlich zu verfahren und einander nicht in die Rede zu fallen‘“. Geregelt werden mussten Disziplinarstrafen gegen Mitglieder und das Verfahren eines möglichen Ausschlusses aus der Gesellschaft, wenn zum Beispiel ein Mitglied Vorträge hielt, ohne zugelassen zu sein. Ausführlich geht Erb auf die Frage ein, inwieweit die Deutschen Gesellschaften der Aufklärung und der „Moderne“ zuzuordnen sind. Sein Urteil ist skeptisch. Immer wieder betont er den ständischen Charakter und warnt vor Schlüssen, dass die Deutschen Gesellschaften vordemokratisch oder sonstwie fortschrittlich waren. „Die Deutschen Gesellschaften sind somit nur sehr bedingt als Vorboten einer wie auch immer gearteten Moderne anzusprechen.“ Dennoch: „Die Frage also, ob die Deutschen Gesellschaften auch aufgeklärte Gesellschaften waren, lässt sich auch vor dem Hintergrund einer fehlenden allgemeinen anerkannten Definition bejahen.“

Probleme der historischen Wertung

Der umfangreiche Text bietet umfassende Informationen zu den Deutschen Gesellschaften im 18. Jahrhundert. Eingeleitet wird mit einer Darstellung der Rezeptionsgeschichte der Aufklärung und darin wieder der Deutschen Gesellschaften. Informativ sind auch die Kurzbeschreibungen der einzelnen Gesellschaften nach Städten im Anhang.

Die Detailgenauigkeit über die Mitglieder und ihren sozialen Stand, über die Ansichten und Tätigkeiten, über Auseinandersetzungen, Mitgliederwerbung und Mitgliedschaften, auch in mehreren Gesellschaften, Zahl der Mitglieder, Anteile von Adeligen und Gelehrten, Verbindungen zu anderen Arten von Gesellschaften und zu Universitäten, die Finanzierung, die Art der Arbeiten in der Gesellschaft und deren Aufteilung, Vorträge und Häufigkeit der Sitzungen, Themen des Alltags, der Wissenschaften und der schönen Literatur, die Verfahren der Publizierung, über Ziele und  soziale Handlungen, die Repräsentation in Bildern, Vignetten und Medaillen, Kostümen und Umzügen – all das präsentiert Erb in übersichtlicher Gliederung an einer Fülle von Beispielen.

Wer an der Sozialgeschichte der bürgerlich-adeligen Vereinigungen mit ihrem Zugriff auf die Natur und die Gesellschaft Interesse hat, für den und die lohnt sich die Lektüre des Buches. Erbs Darstellung lädt zur Diskussion ein – auch deswegen, weil einige seiner Wertungen problematisch erscheinen. Das von Erb gezeichnete Bild der Deutschen Gesellschaften vermittelt etwas von der Dynamik im 18. Jahrhundert, mit der das christliche Bild von Mensch und Natur über Bord geworfen und ersetzt wurde durch ein empirisch gewonnenes, das immer stärker wissenschaftlichen Charakter annahm. Es fehlt bei Erb ein Kapitel, das diese Dynamik in den gesamtgesellschaftlichen europäischen Prozess einordnet. Das Schlagwort „Aufklärung“ reicht da nicht aus. Der Autor greift allerdings die Forschungen zu den Deutschen Gesellschaften im 19. Jahrhundert auf, der Zeit des größten Interesses an der Erforschung dieser Gesellschaften. Die „Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Kultur und Geistesleben“ und ihr Herausgeber Ludwig Keller haben im Kaiserreich mehrere Artikel zu den Deutschen Gesellschaften veröffentlicht. Erb relativiert die Tendenz zur Überbetonung der Progressivität in Richtung bürgerlich demokratischen Gesellschaftsformen, seit die positive Neubewertung der Aufklärung Ende des 1960er Jahre einsetzte. Zu Recht. Aber er tut manchmal zu viel des Guten. Dass Gesellschaften außerhalb der Landes- und Stadtregierungen, der Adelsversammlungen und der Zünfte die Gleichheit der Mitglieder betonen, zugleich aber alte ständische Abstufungen eine Rolle spielen, ist eigentlich selbstverständlich und entwertet die demokratischen Züge nicht. Eine Gesellschaft im Umbruch vom Feudalismus in den bürgerlichen Verfassungsstaat muss natürlich Gemengelagen enthalten.

Ähnlich beim Nationalismus, der zu kurz kommt. Es ist zwar richtig, dass sich die Bezeichnung „Deutsche“ im Titel vornehmlich auf die Sprache und nicht auf die Nation bezieht. Richtig ist auch Erbs Betonung, dass der Nationalismus im Sinne einer Heroisierung des eigenen Vaterlandes kein Merkmal der Deutschen Gesellschaften war.  Aber das stimmt nicht absolut. Der Nationalismus und Patriotismus ist dennoch insgesamt ein Merkmal. Die Patriotischen und die Sprachgesellschaften, denen es um die Durchsetzung der deutschen Sprache in allen publizistischen Bereichen ging, taten dies nicht nur in Abgrenzung zum Lateinischen, sondern auch, um das Deutsche als Nationalsprache eines Volkes, das in einen Staat umzuwandeln eine Aufgabe im 18. Jahrhundert war, zu fördern.

Die Deutschen Gesellschaften wandten sich mit ihrer Pflege ihrer Sprache nicht nur gegen die Gelehrten, sondern auch gegen den Papst. Die Forderung nach Nationalsprachlichkeit zieht sie in die Auseinandersetzungen zwischen Territorialstaaten und römischer Kurie. Der Protestantismus der Deutschen Gesellschaften war zugleich eine Bewegung für den weltlichen Staat einer Nation.

So auch bei anderen Merkmalen. Wenn Erb „die ambivalente Stellung der Sozietätsbewegung zum Französischen“ konstatiert, dann deswegen, weil das Französische die Sprache der Höfe war und die französische Literatur bis zu Gottsched, Lessing und den Stürmen und Drängen die Theateraufführungen in Deutschland dominierte. Gegen das Französische war man also als klassenbewusster Bürger und niederer Adeliger, der überwiegend antihöfisch eingestellt war, und aus Gründen des deutschen Kulturpatriotismus.

Erbs Buch ist sehr nüchtern und der Verfasser sehr vorsichtig in seinen Urteilen. Dem Text fehlt ein wenig das Erstaunen, der Schwung, die Begeisterung des Autors für die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklungen im 18. Jahrhundert.

Titelbild

Andreas Erb: Die Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts. Ein Gruppenbild.
De Gruyter, Berlin 2023.
XII, 687 Seiten , 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110776133

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch