Risse in der Gegenwart
In Kristine Bilkaus Roman „Halbinsel“ geht es um Ansprüche und Erwartungen, um unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Welt und der eigenen Existenz
Von Werner Jung
Im Roman von 2018 Eine Liebe, in Gedanken von Kristine Bilkau formuliert die Erzählerin einen Gedanken, der sowohl den poetologischen Hintergrund des Textes markiert, als auch auf gelungene Weise einen Kern des neuen Romans bezeichnet. Wie nah könne man nämlich Menschen überhaupt kommen? Und bleibe es nicht vielmehr immer in Texten und Erzählungen bei bloß erdachten Geschichten? – Kristine Bilkau erzählt die Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung in diesen Tagen, kurze Zeit nach Corona. Die Mutter Annett, eine 49-jährige Bibliothekarin in einer kleinen norddeutschen Küstenstadt, seit beinahe zwei Jahrzehnten Witwe, nachdem ihr Mann Johan beim Joggen einen Herzstillstand erlitten hat, ist die Ich-Erzählerin dieses Romans, deren Tochter Linn, eine knapp 25-jährige Umweltökonomin, die bei einem Vortrag einen Schwächeanfall erlitten hat, kurze Zeit ohnmächtig gewesen ist und sich nun bei ihrer Mutter eine Auszeit nimmt. Das bringt deren Leben und Alltag gehörig durcheinander – und der Roman erzählt nun die Zeitspanne jenes Sommers, in dem sich Mutter und Tochter neu entgegengekommen, ihre verschiedenen Lebensvorstellungen aufeinandergeprallt sind und sie sich aneinander abgearbeitet haben.
Eine einfache, unspektakuläre Geschichte, aber doch eine, in der die fundamentalen Fragen unserer Zeit und Epoche, unserer deutschen Gesellschaft stecken. Denn die Mutter-Tochter-Beziehung ist so etwas wie der Spiegel: Da ist auf der einen Seite die Mutter, die zwar irgendwie angekommen ist in ihrem Leben, zugleich aber den frühen Tod ihres Partners als offene Wunde immer wieder zeigt und deutliche Vorstellungen davon hat, wie das Leben ihrer Tochter auszusehen hätte; da ist auf der anderen Seite die Tochter, die die schmutzigen Geschäfte – CO2-Zertifikatshandel – ihres neuen Arbeitgebers durchschaut hat und offensichtlich, durch den Schwächeanfall bedingt, einen notwendigen Abstand benötigt und sich deshalb auch zeitweise als Bäckereiverkäuferin verdingt. Es geht um Ansprüche und Erwartungen, um unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Welt und der eigenen Existenz; darum, wie sich die verschiedenen Generationen begegnen können und was sie voneinander zu lernen vermögen. Das ist leicht formuliert, aber verlangt ungeheuer viel, was Bilkau in ihrem Roman eindringlich zu zeigen versteht. Nichts ist bloß einfach, nichts kennt nur eine einzige Sichtweise; in jedem Augenblick und überall klaffen vielmehr Abgründe, offenbaren sich unentdeckte Rückseiten.
An einer Stelle blitzt es in Annett einmal auf:
Dieses Gefühl, dass die Gegenwart einen Riss bekommt, hinter dem etwas lauert, und zwei Wahrnehmungen miteinander konkurrieren, das Vertraute und das Bedrohliche, etwas Ähnliches hatte ich schon einmal erlebt, […].
Ja, es braucht in der Familie, in menschlichen Beziehungen überhaupt, in der gesamten Gesellschaft so etwas wie Offenheit und Empathie, die Fähigkeit des Zuhörens und Ernstnehmens, die (mögliche) Akzeptanz des Anderen, aber auch die Notwendigkeit des Gesprächs und der Argumentation. Wie gesagt, Bilkau deutet dies alles an, spiegelt es in ihre Mutter-Tochter-Beziehung hinein: die Corona-Pandemie und ihre Folgen, Umweltkrisen, -katastrophen und -verbrechen, alternative Lebensformen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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