Den Rhythmus entdecken
Vera Viehöver hat eine anregende Denkbiographie über das Werk Meschonnics geschaffen
Von Achim Geisenhanslüke
Henri Meschonnic ist hierzulande immer noch ein Unbekannter. Von seinen vielen Schriften sind einzig die Ethik und Politik des Übersetzens sowie wenige Aufsätze auf Deutsch erschienen. Im Unterschied zu zeitgenössischen Theoretikern wie Jacques Derrida oder Michel Foucault hat Meschonnic international nie die große Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Wer ihn kennen lernen möchte, ist noch immer auf die Lektüre seiner französischen Schriften angewiesen.
Den Einstieg in sein Werk erleichtert jetzt die erste auf Deutsch erschienene Einführung in sein Denken: Eine „Denkbiographie“ nennt Vera Viehöver ihr Buch im Untertitel. In zwölf Kapiteln stellt sie den zu Unrecht noch relativ unbekannten Autor dem Publikum vor – ein Unterfangen, das längst überfällig war und von Viehöver brillant gelöst wird. Denn sie beschränkt sich nicht auf längst Bekanntes, sondern fügt der Forschung zu Meschonnic durch eine genaue Lektüre seines Werks und Dokumenten aus dem Archiv neue Aspekte hinzu.
Zu den Dingen, die bisher selbst in der französischen Meschonnic-Forschung nicht allzu bekannt waren, zählt die Bedeutung seiner Algerien-Erfahrung. Den Krieg gegen die französischen Kolonialherrschaft hat er 1960 aus nächster Nähe selbst erlebt: Wenn Onur Erdur in seiner vielbeachteten Studie zur Schule des Südens am Beispiel von Barthes, Derrida, Foucault und anderen über die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie schreibt, hätte er Meschonnic getrost hinzufügen können. Das gilt sowohl für dessen Lyrik als auch seine Theorie: Seine ersten Gedichte nennt er Poèmes d’Algérie. Auch die Auseinandersetzung mit dem ihn lebenslang begleitendem Thema des Übersetzens, insbesondere der Bibelübersetzung aus dem Hebräischen, beginnt in Algerien. Anschaulich stellt Viehöver das Algerienerlebnis Meschonnics so an den Beginn seiner Arbeiten – von Beginn bis zum Schluss ist ihre Studie lesbar und gut nachvollziehbar gehalten.
Vor diesem Hintergrund geht Viehöver dann ausführlich auf biographische Hintergründe ein, um den Begriff ins Zentrum zu stellen, der Meschonnics Denken bis zu seinem Tod 2009 bestimmt hat: den des Rhythmus. Im Blick auf den doppelten Einfluss, den Benveniste und Humboldt auf Meschonnic ausgeübt haben, stellt sie dessen Werk als kontinuierlichen Beitrag zu einer historischen Anthropologie der Sprache dar. Diese kommt in Zeiten des Strukturalismus und Poststrukturalismus seltsam unzeitgemäß daher, da sie sich gegen eine verkürzte Zeichentheorie zur Wehr setzt und mit dem Subjekt den Begriff in das Sprachdenken einführt, den Theoretiker wie Foucault aus den sciences humaines erfolgreich verbannt haben. Ein Außenseiter in seiner Zeit bleibt er, weil er sich weder der hermeneutischen Theorie von Sinn und Bedeutung verpflichtet noch dem strukturalistischen Zeichenmodell. Den Rhythmus versteht er als Organisation der Bewegung des Sprechens, so dass es für ihn keine Diskontinuität zwischen dem System der Sprache auf der einen und der Theorie des Subjekts auf der anderen Seite gibt, sondern eine Einheit, die erst der Rhythmus sichtbar macht. Meschonnic wurde zu Lebzeiten nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die er eigentlich verdient hätte. Umso schöner ist es, dass jetzt eine Denkbiographie erschienen ist, die die vielen Facetten von Meschonnics Leben und Werk berücksichtigt.
Dass Meschonnic eine Theorie der Sprache vorlegt, die vom Subjekt her gedacht wird, erläutert Viehöver nicht nur im Blick auf seine scharfe Kritik Heideggers und Derridas, sondern auch mit Hinsicht auf die Privilegierung des Gedichts als rhythmisch organisierte Bewegung der Rede, wie sie Meschonnic paradigmatisch im Werk Paul Celans verwirklicht sieht. Damit rücken zugleich Aspekte wie Meschonnics ganz und gar agnostisches Bekenntnis zum Judentum in den Vordergrund – nicht zuletzt seine Tätigkeit als Bibelübersetzer, aus der heraus er seine Poetik des Rhythmus als eine der Oralität, der Stimme und des Hörens, entfaltet.
Was Viehöver darüber hinaus deutlich macht, ist die Vernetzung Meschonnics mit der zeitgenössischen Kunst – auch das Erkenntnisse, die in der internationalen Meschonnic-Forschung bisher kaum eine ausreichende Würdigung erfahren haben. Viehöver erläutert die Verbindung nicht nur an der Zusammenarbeit mit den Theaterregisseuren Claude Régy und Antoine Vitez, sondern auch an der Freundschaft zwischen Meschonnic und dem Maler Pierre Soulages. Dessen Malerei des Lichts berührt sich mit Meschonnics Poetik des Rhythmus in ihrer schöpferischen Kraft der Verwandlung von Schwarz ins Licht. Meschonnic erscheint damit nicht länger als Außenseiter in seiner Zeit, wie er sich selbst häufig dargestellt hat, sondern als gut vernetzter Intellektueller, dessen kritisches Augenmerk als Sprachwissenschaftler, Dichter und Übersetzer auf der eigenen Gegenwart liegt. Die Kritik des Rhythmus, so der Titel des bis heute nicht übersetzten Hauptwerks Meschonnics, leitet ein dynamisches Verständnis der Moderne, als deren Teil sich Meschonnic selbst sieht. Ihn weiterdenken, so lauten die Schlussüberlegungen Viehövers, bedeutet, gegen „die weit in das gesellschaftliche Leben ausgreifende Macht des Zeichendenkens“ zu protestieren, um für den Rhythmus als Erscheinungsweise des Subjekts einzutreten. Viehöver, die es in ihrer Studie nicht versäumt, auf die Pionierarbeiten von Jürgen Trabant und Hans Lösener hinzuweisen, fordert so dazu auf, den Zusammenhang von Poetik, Ethik und Politik, den Meschonnic erhoben hat, als Ausgangspunkt der Kritik weiter in die Gegenwart zu tragen. Wer sich kritisch mit Meschonnic auseinandersetzen möchte, kommt an ihrer Denkbiographie nicht vorbei. Vielmehrfindet man mit ihr den passenden Einstieg in ein ebenso anregendes wie provozierendes Werk, das erst allmählich in seiner historischen Bedeutung gewürdigt wird. Dass Viehöver neben ihrer klugen Studie eine Übersetzung kleinerer Schriften Meschonnics ankündigt, steigert die Lesefreude noch mehr, denn eines macht ihre so lesenswerte Denkbiographie mehr als alles andere klar: Noch immer ist Meschonnic zu entdecken.
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