Zwischen Exotik und Realismus

Zum Tod von Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Ich glaube, die beste Art, die Übel unserer Zeit zu bekämpfen, besteht darin, Bücher zu verbreiten und die Menschen von einer besseren Welt träumen zu lassen, von einer anderen Welt, in der es weniger Gründe gibt, um unzufrieden zu sein.

Das hatte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa im September 2020 in Berlin erklärt.

Im letzten Jahr war in deutscher Übersetzung noch der Roman Die große Versuchung erschienen. Liebe und Kunst, Leidenschaft, die Politik und Peru: Vargas Llosa hatte noch einmal seine großen Sujets zusammengeführt – nicht mehr mit der bekannten und gerühmten bunten, farbenprächtigen Sprache, sondern augenscheinlich geschrieben mit einer Träne im Augenwinkel.

Er hat 79 Ehrendoktorhüte bekommen, unzählige Literaturpreise entgegen genommen und war in seinem Heimatland Peru sogar einmal zur Präsidentenwahl angetreten. Vargas Llosa war ein Mann der absoluten Superlative. Jede Buchneuvorstellung wurde in der spanischsprachigen Welt als ‚Event‘ zelebriert. Für seine „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder individuellen Widerstands“, hatte ihm das Stockholmer Nobelpreiskomitee 2010 die mit umgerechnet rund 1,1 Millionen Euro dotierte wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt zugesprochen.

Mario Vargas Llosa, der am 28. März 1936 in Arequipa im peruanischen Hochland als Sohn eines Radiojournalisten geboren wurde, begann schon früh zu schreiben. In seinem ersten bedeutenden Werk, den in mehr als 20 Sprachen übersetzten Roman Die Stadt der Hunde (1963), verarbeitete er seine Erfahrungen in der Kadettenanstalt von Lima. Er arbeitete später als Journalist für viele internationale Zeitungen, als Literaturdozent in den USA und hatte Gastprofessuren in aller Welt inne. Sein Studium hatte er ausgerechnet mit einer Arbeit über seinen großen südamerikanischen Antipoden Gabriel García Márquez abgeschlossen, dem er stets seine politische Nähe zu Fidel Castro vorhielt:

Dass ein Schriftsteller den Führer eines Regimes beweihräuchert, in dem es viele politische Gefangene – darunter mehrere Schriftsteller – gibt, das eine rigorose intellektuelle Zensur praktiziert, nicht die mindeste Kritik duldet und Dutzende Intellektuelle ins Exil gezwungen hat, ist etwas, das mich mit Scham erfüllt.

Noch ein zweites Mal schrieb Vargas Llosa ganz eng an seiner eigenen Biografie entlang. Mit 18 Jahren hatte er Julia Urquidi geheiratet, mit der er neun Jahre zusammenlebte. Diese Beziehung diente als Grundlage des vielbeachteten Romans Tante Julia und der Kunstschreiber. In seinen großen, überquellenden Romangemälden hat sich Vargas Llosa, der 1990 für das Präsidentenamt in Peru kandidiert hatte, wiederholt der Ausbeutung der Ureinwohner, der blutigen Kämpfe von Untergrundorganisationen, der Korruption, der zwielichtigen Rolle der Militärs und des Totalitarismus gewidmet.

Seine Romane Tod in den Anden, Das Fest des Ziegenbocks, Der Geschichtenerzähler und Das grüne Haus stießen auch hierzulande auf große Resonanz. Darüber hinaus hat er in Lob der Stiefmutter und Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto dem Faszinosum Liebe (und der Erotik) eine neue poetisch-zeitgenössische Dimension verliehen. In der Figur des leicht exzentrischen Don Rigoberto, der das Mittelmaß in allen Lebenslagen verachtet, spiegelt sich auch Vargas Llosas Credo.

In seinem letzten ganz großen Roman Das böse Mädchen (2006) breitete er ein opulentes Erzählspektrum aus, in dem es nicht nur um eine leicht märchenhaft anmutende Liebesgeschichte geht, sondern auch um politische Umwälzungen und um gescheiterte Utopien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Um zu erreichen, was man will, ist jedes Mittel recht.“ So lautete das Credo der weiblichen Hauptfigur im Roman. Wie ein Chamäleon wechselte sie ihre Identitäten und trieb so über den Handlungszeitraum von rund vierzig Jahren ein emotionales und kriminalistisches Verwirrspiel mit dem männlichen Protagonisten Ricardo Somocurcio.

Vargas Llosa, der auch brillante Essays über Flaubert, Hugo und Gauguin verfasste und zwei Jahre dem Internationalen PEN-Club vorstand, war ein behutsamer Gratwanderer zwischen Exotik und Realismus, zwischen Lebensfreude und Skeptizismus.

Der Nobelpreisträger war aber auch stets für Überraschungen und auch für Provokationen gut. Als ihm 1996 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, bekannte er, dass seine erste Begegnung mit der deutschen Literatur im Wilden Westen stattgefunden hat: „Nicht Karl Marx, sondern Karl May habe ich als junger Mann verschlungen.“

Vargas Llosa wurde in den letzten Lebensjahren immer mehr zu dem, was er in Abgrenzung zu seinem langjährigen Intimfeind Gabriel García Márquez nie werden wollte – zum politisch-poetischen Gewissen Lateinamerikas. Am 13. April ist der große, international geachtete Schriftsteller Mario Vargas Llosa in Lima im Alter von 89 Jahren gestorben. Seine Stimme wird fehlen.