Ein Vermächtnis?

Gerhard Köpf zieht gegen totalitäre Tendenzen unserer Zeit und mancherlei mehr zu Felde

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der mit Romanen, Erzählungen und Hörspielen immer wieder für Aufsehen, für Applaus und Begeisterung sorgende Gerhard Köpf, in seinem zweiten Leben Literaturwissenschaftler mit besonderem Interesse u.a. an erzähltheoretischen, monographischen und psychopathologischen Themen, gehört seit mehr als vierzig Jahren, seit seinem Roman Innerfern (1983), nachlassender Rezeptionsintensität im neuen Jahrtausend zum Trotz zu den Großen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auf bzw. in literaturkritik.de ist er mehr als ein halbes Dutzend Mal besprochen worden, vor kurzem erst von Friedrich Voit mit seinem jüngsten, im März dieses Jahres bei Braumüller in Wien erschienenen Roman Kramer oder Das Ziel aller Wünsche.

Im Unterschied zu diesem Roman ist der hier zur Rede stehende, einen Monat vor Kramer erschienene Erzähltext Der Mohrenapotheker oder Zu neuen Meeren sinkt das Schiff wie schon Köpfs Roman Adenauers Uhr (2023) allerdings in keinem zum etablierten Literaturbetrieb zu rechnenden Verlag erschienen. Vielmehr ist er – seinem gehaltlich zwischen Widerstand, Verweigerung, Lamento, Flucht und Einzelgängerei changierenden Charakter geschuldet? – im Pretziener (Schönebeck, Elbe) ‚Szeneverlag‘ Moloko herausgekommen. Der gehört zu jenen von der interessierten Öffentlichkeit meist nicht wahrgenommenen, aufgrund von medialen und kommerziellen Exklusionsmechanismen auch kaum wahrnehmbaren Kleinunternehmen, die sich, in der Tradition bspw. expressionistischer Verlags- und Zeitschriftengründungen literaturidealistisch gesinnt, dem sich selbst schönsprecherisch unbedingte Qualitätsorientierung attestierenden Mainstream verweigern. Verweigern, weil dieser Mainstream, diese ‚Union der festen Hand‘ aus Buchwirtschaft, Medien, Institutionen, Dienstleistern und last but not least auch Autorinnen und Autoren de facto nur zu oft vor allem schnöden wirtschaftlichen Interessen folgt – Stichwort: „Der neue Bestseller von …“.

Bei Der Mohrenapotheker oder Zu neuen Meeren sinkt das Schiff – der Untertitel lässt sowohl an den Skeptizismus Montaignes und Emersons als auch an Nietzsches Aufbruch-Gedicht „Nach neuen Meeren“ denken, literaturgeschichtlich lassen sich Verbindungen bspw. zu Ernst Kreuders Erzählung Die Gesellschaft vom Dachboden und Ernst Wiecherts Roman Das einfache Leben, aber auch zu protestliterarischen Texten um 1968 in der Tradition des Hessischen Landboten ausmachen – handelt es sich um einen unterm Strich kompositorisch unstimmig wirkenden, wie häufiger bei Köpf mit immensem „Bildungswissen“ (Max Scheler) beglückenden, angesichts gelegentlicher Überfülle zuweilen aber auch enervierenden Erzähltext. Dazu später mehr. Dieser mit einlässlichen Ausflügen in die Real- und in die Literaturgeschichte, mit an erzählte Figuren gebundenen Reminiszenzen an des Autors eigenes Werk und mit verkappter Autofiktion durchwirkte Erzähltext ist vor allem eins: eine Brandrede insbesondere auf zusehends zu guillotinescharfen Dogmenkatalogen verunstaltete Konzepte wie Political Correctness oder Woke, durch die die bundesrepublikanische Gegenwart in Richtung Cancel Culture geprägt ist. Darüber hinaus ist er aber auch eine gründliche Reflexion über das Altern, das Alter und ein altersgemäßes Leben – Stichworte hier: Weltflucht und Stoizismus. Er weist neben realistischen auch dystopische, satirische und märchenhafte Züge auf.

Im Mittelpunkt des Textes steht ein älterer Herr ohne Anhang mit dem schillernd-sprechenden Namen Anselm Taube. Taube ist „Apotheker alter Schule“ und ein „Epochenverschlepper“, einer, der der idyllisch-biedermeierlich entworfenen Welt seiner Kindheit in den 1950er-Jahren nachtrauert, von „Erinnerungen“ lebt und dessen „Waffen gegen die allgemeine Verpöbelung“ seiner, d. h. unserer Gegenwart, „Würde und Eleganz“ sind. Nicht genug damit, dass er seine Ehefrau Beate auf einem Zebrastreifen an einen straffrei davonkommenden Raser verloren hat. Er muss auch seine seit 1789 im Familienbesitz befindliche Apotheke aufgeben, da er deren zeitgeistverderbt von allen Seiten angefeindeten Namen „Mohrenapotheke“ bester Gründe halber nicht aufgeben will und dadurch als „Rassist“ und „Musterbeispiel eines weißen alten Mannes“ sozialer Ächtung anheimfällt.

Das Land war auf dem besten Weg, für einen frei denkenden Menschen unbewohnbar zu werden. Die Regierung bestand aus Studienabbrechern auf Ministerstühlen, die Staatssekretäre rekrutierten sich aus der eigenen Verwandtschaft, man organisierte sie nach der Methode der Mafia, in den Verwaltungen saßen willige Vollstrecker: Leute mit großer Klappe und geringem Verstand, die nicht einmal korrekt Deutsch sprechen und schreiben konnten, bewegten die Schalthebel der Macht.

Als sich die Möglichkeit bietet, sich in einem abgelegenen, mehr oder minder weltvergessenen Dorf hoch in den Bergen anzusiedeln, das nur noch von hierher geflüchteten Menschen seiner Generation bewohnt wird, verlässt der tendenziell lesewütige, zum „Don Quijote“ mutierte Taube seine Heimatstadt, ist diese doch – fest in der „malignen Gewalt“ eines „Neuen Wohlfahrtsausschusses“ und hier insbesondere in derjenigen einer ebenso „arrogant[en]“ wie „infam[en]“ „Archontin“ bzw. „Diabola“ – ein Beispiel für jene „Moralrepublik“, jene „Zuchtanstalt“, zu der nach Taube das Land verkommen ist.

Im Dorf angekommen, wird er vom Vorsteher des Dorfes Heinrich unter anderen mit Worten begrüßt, die wohl auch das Selbstverständnis des Autors zum Ausdruck bringen, der, nicht immer die wünschenswerte Distanz wahrend, via Taube und Erzählerstimmen (es gibt deren zwei, eine heterodiegetische und eine homodiegetische) an der Gegenwart kein gutes Haar lässt:

„Aber weder sind wir verkitschte Nostalgiker noch Kohlrabi-Apostel […]. Jeder von uns hat seine eigene Geschichte, die weder etwas mit Graswurzelphilosophie noch mit Aussteigertum zu tun hat.“

Über den gesamten Text verteilt wird gegen bzw. über Vielerlei argumentiert, polemisiert und lamentiert, so gegen bzw. über Sprachreglementierungen diverser Art, Schule allgemein und hier Deutsch- bzw. Literaturunterricht im Besonderen, Helikoptereltern, die machtapologetische Medienlandschaft, die Larmoyanz und das Anspruchsdenken junger Leute, die Klimadebatte, das Sterben von Dörfern oder das Verschwinden von Berufen.

Angesichts dieses Befundes geht man wohl nicht fehl in der Annahme, dass es Gerhard Köpf mit Der Mohrenapotheker oder Zu neuen Meeren sinkt das Schiff vor allem darum ging, seinem massiven, weiteres fundamentales Unheil für den Einzelnen wie für die gesamte Gesellschaft prognostizierenden Ungenügen an der Gegenwart freien Lauf zu lassen. Goethes Urteil „Zur Resignation gehört Charakter“, am 4. Mai 1811 Sulpiz Boisserée gegenüber geäußert und dem zur Rede stehenden Erzähltext als Motto vorangestellt, gilt von daher für ihn hinsichtlich der „Resignation“ zumindest nicht in vollem Umfang. Hätte er sonst den vorliegenden Erzähltext geschrieben?

Anzumerken ist freilich, dass Köpf dem Schreiben als solchem mehr Aufmerksamkeit hätte schenken können. Zwar erfreut man sich nahezu durchgängig an ebenso präzisen wie gediegenen Formulierungen, doch aufs Ganze gesehen wirkt Vieles plakativ, ist nur allzu oft mühelos erkennbar, wer und was aus unserer realen Welt in jenen Sack gesteckt wurde, auf den des Autors Knüppel niedersaust. Ob es da nicht besser gewesen wäre, gleich einen Essay oder ein Pamphlet zu schreiben?

Es kommt hinzu, dass eine Reihe von Aussagen bzw. Angaben sich widersprechen oder Ungereimtheiten aufweisen, z. B. solche über das Dorf, dessen Geschichte und die Anreisemöglichkeiten dorthin. Zudem wirken neben diesem oder jenem Rückblick insbesondere drei als solche durchaus erzählenswerte und gut erzählte Passagen – die referierte „feierliche[] Antrittsvorlesung“ Taubes im Dorf über die Figur des Apothekers in der Weltliteratur, diejenige über Hitlers Adjutant Fritz Wiedemann sowie die realgeschichtlich gesättigte über den benachbarten Pferdenarren Cusbert – mit jeweils ca. 5 Seiten angesichts von insgesamt 68 Textseiten überlang. Weiters ist ihre Funktion im Erzählgeschehen nicht recht erkennbar, ihre erzählerische Motivierung überzeugt nicht wirklich.

In diesem Zusammenhang ist schließlich auf den konstruiert wirkenden Schluss des Erzähltextes hinzuweisen, der mit „Migration“ auch noch das in Deutschland zentrale innenpolitische Thema der letzten Jahre anreißt.

Während wir noch damit beschäftigt sind, an unseren Apotheker […] zu denken, schaute einer von uns aus der Dachluke. Er sah eine seltsame Schar das Tal heraufkommen und auf unser Dorf zuhalten. Wir liefen alle zur Dachluke und sahen bestürzt, was da auf uns zukam:
Junge dunkelhäutige Männer, auch verschleierte Frauen mit Kindern, vielen Kindern. […] Die gespenstischen Figuren, die uns gehörig Angst machten, kamen immer näher, die fremden Laute wurden eindringlicher. […] Die jungen Männer […] wirkten gefährlich, und wir ahnten nichts Gutes. Die Menschenschlange wurde immer länger, sie wollte kein Ende nehmen.

Einig ist man sich im Dorf darüber, dass mit diesem Zuzug, mit diesem „Jüngste[n] Gericht“ die eigene Geschichte an ein Ende gekommen ist. Während die einen, die „Ängstlichen“ und Rückwärtsgewandten, dies bedauern, sehen die „Mutigen“, die in die Zukunft Schauenden darin die „Rettung“.

Aber zurück noch einmal zu Anselm Taube. „Nach und nach“ verwächst der „mit dem Dorf und mit uns“, wird ein „Teil von ‚Wir‘“, jener „verschworene[n] Gemeinschaft“, jenem „beinahe ideale[n] Kollektiv“, jener „Sozietät […] aus Individualisten und Einzelgängern, die allesamt mit einer Stimme sprechen“, jenen „Narren“, die keine „Maske“ mehr tragen, die sagen was sie denken und die die „allgemein herrschende Angst […] durch Wissen ersetzt“ haben. Doch auf Dauer hat auch dieser Integrationsprozess keinen Bestand. Als „Sonderling“ und „Einzelgänger“, der Taube bei Lichte gesehen immer schon war, zieht er sich, angeregt auch durch Marc Aurels Selbstbetrachtungen und Gontscharows Oblomow, auch aus dieser Gemeinschaft zusehends zurück und entflieht ein weiteres Mal.

Entscheidende Bedeutung kommt dabei – „Von allen Vögeln liebte er [Taube] die Schwalben am meisten“, lautet der erste Satz des sich dergestalt rundenden Erzähltextes – einer aus dem Nest gefallenen Schwalbe zu, die, von Taube Rudi (althochdeutsch „kühn, tapfer“) getauft, zu seinem letzten Lebensinhalt wird. Als der Herbst herannaht, sind anscheinend auch dem gänzlich abgetauchten Taube Flügel gewachsen, ist auch er zu einer Schwalbe geworden, die wie Rudi zum Überwintern in südliche Gefilde davonfliegt. Jedenfalls findet man um eine „sperrangelweit offene Dachluke“ neben ‚Rudi-Federn‘ auch solche, die ob ihrer Größe nicht von Rudi und nur von Taube stammen können.

Das sei doch arg märchenhaft? Richtig, neben, ja wegen prosaischer Beschränkung lebe die poetische Freiheit!

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Gerhard Köpf: Der Mohrenapotheker oder Zu neuen Meeren sinkt das Schiff.
Moloko Print, Schönebeck 2025.
68 Seiten , 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783910431836

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