Der gottverdammte Parietallappen

Philipp Kerrs Science-Fiction-Thriller "Der zweite Engel"

Von Stephan MausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Maus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum hat das 21. Jahrhundert begonnen, lässt Philipp Kerr es auch schon wieder enden. Und wie: das tödliche Virus P2 hat 80 Prozent aller Menschen befallen. Nur ein kompletter Blutaustausch verspricht Heilung. Gesundes Blut wird zum höchsten Gut: ein Liter kostet 1,5 Millionen Dollar, zzgl. Ökosteuer. Die Privilegierten und Gesunden haben Blutbanken angelegt, aus denen sie sich in schlechten Zeiten bedienen können. In guten treiben sie einträglichen Handel mit dem roten Gold. Die Mittellosen und Infizierten leben in den miasmatisch-feuchten Matratzengruften der heruntergekommenen Vorstadt-Ghettos. Wer hier nach Einbruch der Dunkelheit zu sehr nach Rotbäckchen aussieht, wird "gevampt". Mr. Dana Dallas ist vorerst auf der sonnigen Seite der Stadtgrenze: er konstruiert Hochsicherheitsanlagen für Blutbanken. Doch nichts ist langweiliger als glückliche Helden. In das Leben des Kontrollprofis hält das Chaos Einzug, in seine soziale Matrix schleicht sich der Bug. Mit der Krankheit seiner Tochter beginnt Dallas´ Abstieg in die Hölle. Plötzlich braucht er mehr Blut, als er sich je leisten könnte und wird damit zum Sicherheitsrisiko für die Firma. Im Zuge der sich überstürzenden Ereignisse lässt sein Chef seine gesamte Familie ermorden. Dallas sieht blutrot und schwört Rache. Er schlägt sich auf die andere Seite der aseptischen Sicherheitsschleusen. Infektion, Krankheit, Kriminalität. Er fliegt zum Mond, um dort das Labyrinth seines eigenen Geistes zu besiegen.

Dallas´ läuternde Mondfahrt präsentiert sich als kartesianisches "Cogito ergo sum", sokratisches "Erkenne dich selbst" und männerbündlerische Suche nach dem heiligen Gral. Kerrs Science-Fiction-Thriller ist Initiationsmythos und Heilsgeschichte. Der Titel "Der zweite Engel" zitiert die Offenbarung des Johannes: "Und der zweite Engel goß aus seine Schale ins Meer, und es ward Blut wie eines Toten." Dallas wird zum Racheengel auf der Mission Impossible gegen die Welt der Reichen und Mächtigen. Er rekrutiert sechs Wegesgenossen aus einer Halbwelt ganz nach Art von Gotham City, in der die nachtaktiven Verbrecher tagsüber schlafen "wie Klumpen von Fledermäusen nach der erfolgreichen Nahrungssuche." Die sieben apokalyptischen Reiter jagen den Mondorbit entlang und schenken fast wider Willen und Wissen der Menschheit gesundes Blut und sogar mehrfache Auferstehungen dank neuester Gen-Technik mit energiesparender Schlummer-Funktion. Dana Dallas wird zum Gründer eines neuen Menschengeschlechtes, ganz wie sein Namensvetter, der sagenhafte König Danaus, zum Stammvater aller Griechen wurde. Der Roman ist als Offenbarung angelegt. Seine Epiphanie hier schon vorwegzunehmen hieße jedoch, den Thrill aus dem Thriller zu nehmen. Nur so viel: apokalyptische Reiter sind immer nur die Vorhut.

Der Text ist bevölkert von Schwellenwesen. Natürliches vermischt sich mit Artifiziellem, Körper verwachsen mit Prothesen, während die fehlenden Gliedmaßen als Phantomwerkzeuge immer noch praktische Dienste erweisen können - nach der etwas gewöhnungsbedürftigen Logik, dass eine fehlende Hand, die Phantomschmerz verursacht, schließlich auch noch zum telekinetischen Zigarettendrehen taugen müsste. In allen Blutbahnen zirkulieren geschäftige Nanorobots und machen Frühjahrsputz. Die Computer begnügen sich nicht mehr nur mit Silizium, sondern fordern ihrerseits einen Blutzoll. Und in jedem Labyrinth harrt ein Minotauros, halb Mann, halb Stier, halb Mensch, halb Maschine. Der Text ist wie infiziert vom Zwitterhaften und erscheint selbst als ein Doppelwesen aus Mythos und Wissenschaft. Anfangs sieht man Dallas in seinem Büro vor Simulationsfenstern, die Ausblick auf inspirierende Unterwasserwelten gewähren. Hier steht ein moderner Kapitän Nemo, einsam unter den Meeren, umgeben vom gesammelten Wissen seiner Zeit, nur seinen eigenen Gesetzen folgend, seinen Nautilus langsam auf Rachekurs beidrehend. Ebenso wie Jules Verne verflicht Kerr reine Handlungssequenzen mit populärwissenschaftlichen Passagen, in denen er den aktuellen Stand der Wissenschaften referiert. Das liest sich dann streckenweise wie Peter Moosleitners interessantes Wissenschaftsmagazin oder der neue "Was ist Was?"-Sonderband über Hämoglobin. Oft sind die Laserpistolen bedrohlich dozierend auf den Leser gerichtet: "Und schließlich ist da noch der Parietallappen des Gehirns." Kerr lässt es sich nicht nehmen, auch noch mit dem fadenscheinigsten Fußabtreter auf der Schwelle zu unserem Hinterstübchen zu wedeln. Der Autor scheint selbst für den kritischen Stationsarzt noch überzeugend bleiben zu wollen. So steht da einiges Ambitioniertes über Leib, Seele und gar Heisenbergsche Unschärferelation, das man jedoch alles gar nicht so genau wissen will, wo der Held doch gerade so spannend und unheisenbergsch scharf positioniert mit dem Rücken zur Wand steht. "Solcher Fragen gab es viele, zu viele, um sie hier alle aufzuführen." Eben.

Aber diese pedantischen Exkursionen und die zahlreichen Fußnoten, hinkendste aller Erzähltechniken, legitimiert Kerr durch den speziellen Charakter seines Erzählers, der sich am Ende des Textes offenbart. Bis auf dieses Spiel mit einer unzuverlässigen, vorlauten Erzählstimme "in der großen Tradition von Joseph Conrad, Henry James und Emily Bronte" bleibt Kerr unaufgeregt konventionell. Erstaunlich, dass sich selbst die gewagtesten Gedankenspiele in die herkömmlichsten Sprachmuster fügen. Die mutigsten Zukunftslaboranten machen keine stilistischen Experimente. Die Sprach-Matrix ist mindestens hundert Jahre alt. Nur hin und wieder flackert ein zeitgemäßes Licht auf: "Das Cockpit erstrahlte hell wie ein in Spaltung begriffenes Wasserstoffatom." Dank seines grundsoliden Erzählhandwerks erschafft Kerr ein unterhaltsam schillerndes Simulationsuniversum, das mit vielen amüsanten Gimmicks ausgestattet ist. Das alles ohne Stilblüten, die gerade im Science-Fiction-Genre immer wieder fruchtbarsten Nährboden finden. Gekonnt vampt Kerr das rotwangige Genre. Besonders empfehlenswert ist die Lektüre für jene Kleinanleger, die zu Beginn dieses Jahrtausends mit der lukrativen Idee liebäugeln, in einen Biotech-Fonds zu investieren.

Titelbild

Philip Kerr: Der zweite Engel.
Wunderlich Verlag, Hamburg 2000.
441 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3805206496

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