Eine spirituelle Japanreise
Beth Kempton sucht in ihrem Ratgeberbuch „Kokoro“ nach Sinn und Sein
Von Lisette Gebhardt
Es hat bereits eine fast hundertjährige Tradition, wenn westliche Frauen die Asienfahrt antreten: Die französische Feministin und Buddhismus-Forscherin Alexandra David-Néel (1868–1969), die in Paris vergleichende Religionswissenschaften, Sanskrit und Mandarin studiert hatte, publizierte 1927 ihr weltweit erfolgreiches Buch Voyage d‘une Parisienne à Lhassa (dt. Arjopa. Die erste Pilgerfahrt einer weißen Frau nach der verbotenen Stadt des Dalai Lama). Gerta Ital (1904–1988) widmete sich in Heidelberg dem Studium der Indologie und reiste 1963 nach Japan, um in einem Zen-Kloster mit einheimischen Mönchen zu meditieren – als erste Frau aus dem Westen, wie es in Der Meister, die Mönche und ich. Eine Frau im Zen-Buddhistischen Kloster (1966, O.W. Barth Verlag) berichtet wird. David-Néels Motivation war Abenteuerlust und die Flucht aus ihrer Ehe, Itals Beweggrund für ihre Aufenthalte in Japan war der Nachweis teutonischer Durchhaltetugenden vor dem Hintergrund der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg sowie eine spirituelle Sehnsucht nach der Erleuchtung, dem Satori, und der Begegnung mit dem japanischen Nichts (mu).
Wabi Sabi stand am Anfang: Lebensberatung mit „Japan“
Beth Kempton (*1977), eine Lebensberatungsautorin aus Southampton/England, hatte zunächst Japanologie an der Durham Universität studiert. Kempton verspürte früh eine Affinität zu dem Land und war seit Ende der 1990er Jahre in Japan längere Zeit beruflich als Kulturmanagerin, TV-Gastgeberin und Übersetzerin auf internationalen Sportveranstaltungen tätig, um in den späten 2010er Jahren Bücher über Selbsthilfe und japanische Weisheit zu verfassen. Darüber hinaus bietet sie Online-Kurse zur Lebensoptimierung an. Ihr Buch Wabi Sabi: Japanese Wisdom for Perfectly Imperfect Life (2018) über die japanische Philosophie der Vergänglichkeit wurde als Bestseller in 24 Sprachen übersetzt. Hier kombiniert die Unternehmerin bereits die Japanerfahrung mit ihrer Life-Coach-Ambition. Ein Rezensent aus Dubai erklärt vier Jahre nach Erscheinen des Werks, dass Wabi Sabi der Generation Z dabei geholfen habe, mit dem „post-pandemischen Blues“ zurechtzukommen.
Das zweite Japanbuch entsteht 2023 und wird 2024 unter dem Motto kokoro veröffentlicht. Es handelt von dem Tod einer namentlich genannten Freundin und dem Tod der Mutter, beide letal an Krebs erkrankt. Kempton verarbeitet die belastenden Erlebnisse auf ihrer Reise. In Gesprächen mit Repräsentanten der japanischen Kultur, wie z.B. dem „Meister des Noh, Haruhisa Kawamura“, sowie durch Exerzitien setzt sie sich mit dem Prinzip kokoro und seinen verschiedenen Aspekten auseinander. Herangezogen werden zudem Quellentexte und Betrachtungen zum kulturellen Kontext. Auf praktischer Ebene absolviert sie ein „Zen-Retreat“, einen Yoga-Workshop, einen Klosterbesuch im Tempel Eihei-ji sowie eine Unterredung in Igo-senseis (Aikido-Meisterin) „Dôjô“ für Kampfkünste, folgt u.a. aber eben auch den Spuren der yamabushi (Meister Hayasaka, Meister Hoshino), die den sogenannten Bergbuddhismus (Shugendô) ausüben.
„Zwei Tode, drei Berge“
Die Verfasserin beschließt also, sich der Herausforderung der heiligen Pilgerberge Dewa Sanzan zu stellen. Mit dem yamabushi-Führer („Hüter des alt-japanischen ethnischen Glaubens Shugendô“) ersteigt sie die vielen Steinstufen. Während sie eine Verbindung ihres „physischen Körpers mit der Gemeinschaft sämtlicher Vorfahren“ empfindet, bläst Meister Hayasaka (zuvor hieß er Hayasaki) in sein horagai-Muschelhorn. Das Motto der Japanreise, die der Überwindung einer persönlichen Krise – ausgelöst durch die Todesfälle und die Erkenntnis des eigenen Alterungsprozesses – gewidmet ist, lautet: „Ein Jahr. Zwei furchtbare Verluste. Drei heilige japanische Berge.“ Am Ende erreicht die Adeptin, wie sie es schildert, gemäß dem Motto „(m)ein kokoro war befreit“ eine höhere Bewusstseinsebene. Kempton möchte aus nachvollziehbaren Gründen in ihrer Trauerphase „unsere“ beschleunigte „Welt der Selbstoptimierung und Zeitmanagement-Bewältigung“ hinter sich lassen, setzt sich jedoch für ihre geistige Rückbesinnung in Japan durchaus ebenfalls ehrgeizige Ziele.
Definitionen von kokoro und japanisches Sinndesign für gestresste Westmenschen
Hätte die Autorin sich darauf beschränkt, in den drei jeweils mit einem Namen der Pilgerberge – Hagurosan, Gassan, Yudonosan – betitelten Kapiteln über ihre Recherchen zu einer japanischen Philosophie der Lebenskunst im Zeichen von kokoro zu schreiben, wäre das Ergebnis eine interessante Reisedokumentation über landeseigene geistige Haltungen geworden. Die Gespräche mit freundlichen Zufallsbegegnungen und japanischen Experten auf dem Gebiet des Religiösen, der nachhaltigen regionalen Erschließung oder des biologischen Anbaus und der ganzheitlichen Kochkunst lesen sich gerade in der Individualität der Aussagen anregend – alle Dialoge beziehen sich größtenteils auf das nicht leicht zu fassende Konzept, das unter Definitionsversuchen wie „Gemüt“, „Wesenskern“, „denkendes Herz“ oder „Buddha-Natur“ erläutert wird:
Als ich damit anfing, einzelne Personen nach dem kokoro zu befragen, stellte sich bald heraus, dass es japanischen Muttersprachlern trotz der häufigen Benutzung des Wortes fast unmöglich war, den Begriff genau zu umreißen. Fragte ich mehrere Leute gleichzeitig, entbrannten oft heftige Diskussionen.
Da Kempton aber im Genre Ratgeberliteratur reüssieren möchte, fügt sie in regelmäßigen Abständen diverse mehr oder weniger originelle Sinnsprüche, „Kokoro-Weisheiten“ und „Kokoro-Übungen“ ein, mit denen man seine innere Haltung und die aktuellen Fortschritte überprüfen kann:
Was könnte sich ändern, wenn Sie mit mehr Gelassenheit Ihre Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten würden – auf diese Phase in Ihrem Leben, diese Woche, diesen Tag, diese Stunde, diesen Moment?
Der forciert blumige Duktus von Zeilen wie „Welche Poesie schlummert unter Ihrer Haut?“ oder „Welches Bedürfnis rauscht durch Ihre Venen?“ trübt zweifellos das Lesevergnügen von weniger esoterisch ambitionierten Leserinnen und Lesern. Einem Publikum, das sich gerne in ferne Lande hineinträumt, bietet die Absolventin eines BA in Japanologie exotistisch angehauchte Bilder (im Grunde nicht allzu verschieden von denen Gerta Itals), wie das des weisen japanischen Meisters, der geheimnisvollen Landschaften der Insel und der erfolgreichen Sinnfindung der Japan-Adeptin. Insofern geht sie wohl auf Kundenerwartungen ein (Verlagsprosa: [Kempton] „wandert durch uralte Wälder, sieht den Mond über mythischen Bergen aufgehen und begegnet unterwegs einer Vielzahl weiser Lehrer“) und stellt in besagten Passagen japanologische Professionalität zugunsten gängiger Klischees zurück.
Spirituelle Netzwerke
Wie Ital erfüllt die Autorin nicht zuletzt eine Aufgabe innerhalb japanischer Kulturpolitik, wenn sie in der westlichen Sphäre im Sinne des nation branding die Vorzüge japanischer Weltanschauung vermittelt. Das Vorwort zum Buch (das man vermutlich schnell überliest) stammt im Übrigen vom Wirtschaftssoziologen Yoshinori Hiroi (*1961). Hiroi betreibt Untersuchungen zu einer nachhaltigen Gesellschaft in Kollaboration mit staatlichen und industriellen Partnern und steht heute dem Institut für die zukünftige Gesellschaft (Institute for the Future of Human Society, IFOHS) vor. Zunächst trug die 2007 gegründete Einrichtung an der Universität Kyoto den Namen Kokoro Research Center (KRC), ab 2020 auch Kokoro no Mirai Kenkyu Center (Center for Research on the Future of Kokoro), und einer seiner Direktoren war Toshio Kawai (*1957), der Sohn des bekannten Psychologen und Regierungsberaters Hayao Kawai (1928-2007) – Religionswissenschaftler Shimazono Susumu prägte für ihn und andere Akteure die Bezeichnung „spirituelle Intellektuelle“.
Die Glanzzeit der spirituellen Diskutanten im japanischen Kulturdiskurs mochte Ende des 20. Jahrhunderts beendet gewesen sein. Gegenwärtig rekonfiguriert sich die Rede von japanischer Geistigkeit, die nicht selten auf die Einzigartigkeit Japans (mit Anklängen an kulturalistisch-nationale Positionen) pocht, unter neuen Vorzeichen: Es ist – per zeitgemäßem Verweis auf die Wunschvorstellung eines „guten Lebens“ oder nachhaltiger Ökologie (wahlweise Gesundheit / health) – nun wieder statthaft, vom Animismus (ein religionswissenschaftlich für Japan nicht gesicherter Terminus) als repräsentativer Weltanschauung des Landes zu sprechen. Westliche Künder einer japanischen Spiritualität sind in kulturpolitisch ambitionierten Kreisen deshalb stets willkommen; das gilt für die Laienebene, wird aber besonders gern bei PR-affinen Spezialisten, respektive von Japanwissenschaftlern gesehen – deshalb der angelegentliche Verweis auf die japanologische Ausbildung der Verfasserin von Kokoro.
Auf jeden Fall profitiert auch der Weltmarkt der Sinndesign-Modelle vom Recycling orientalistischer Zuschreibungen, können damit doch bestimmte religiöse Vorstellungen neu aufbereitet und verkauft werden. Diese Modelle fördern neben dem ökonomischen Zugewinn einerseits den Nationalstolz, tragen andererseits im globalen Rahmen dazu bei, kollektiv anwendbare Sinnstiftung zu gewährleisten – für zunehmend ratlose Mitmenschen, an die sich der vom Insel Suhrkamp Verlag herausgegebene Weisheitsspender richtet.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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