Ethnographien des Alltags

Ein Geschichtensammler läßt erzählen

Von Melanie WitteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Witte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Timm ist seit beinahe 30 Jahren bekannt als Autor von sowohl unterhaltsamen wie kritisch-aufklärerischen Romanen. Jetzt hat er erstmals einen Band mit Erzählungen vorgelegt. Was wird hier erzählt? - Eine irritierende Entdeckung beim Abendessen im Freundeskreis beendet die kurze Ehe von Gisela und lenkt ihr Leben in ganz neue Bahnen. "Nicht morgen, nicht gestern" finden eine namenlose Frau und ein Mann zueinander, sie lieben sich, streiten sich und verlieren einander wieder aus den Augen. Ein Tauben abschießender Computer-Hacker berichtet von Henrys traumatischer Erfahrung mit einem ledernen Penisfutteral und rettet illegalen Einwandererkindern das Leben. Während eine alte Frau die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufsteigt, erwächst aus dem Heute das Gestern, doch das Morgen wird zunehmend unsicher. Die Schließfachbürokratie der Deutschen Bahn und die Konfrontation mit einem über alle Peinlichkeit erhabenen Menschen, bringen einen friedfertigen Jedermann in eine ihm ungewohnte Situation mit unstandesgemäßem Ausgang. Und schließlich durchleben ein Mann und zwei zu mancherlei Spekulationen anregende Frauen in einem merkwürdigen LKW eine bizarre Odyssee zu Zeiten des dahinbröckelnden Ostblocks.

Lustvoll wird das alles erzählt und mit einem wachen Sinn für das Andere und das Absurde, das oft so nah unter der Oberfläche des Alltäglichen nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Die Geschichten sind komisch und traurig, lakonisch und redselig, ungewöhnlich intensiv ("Nicht morgen, nicht gestern") und manchmal etwas zu demonstrativ ("Der Mantel").

Wer erzählt uns das? - Nicht einer erzählt, viele erzählen, und jeder in der ihm eigenen Sprache. Der Autor tritt ganz hinter seine Figuren zurück, seine Gabe der Stimmenimitation ist furios. Ein Vergleich mag Timms sprachliche Flexibilität belegen: "Er wird, dachte ich, eben dies beim Schreiben vor Augen gehabt haben, die Bucht mit den gegenüberliegenden Hügeln, den Wiesen, den dunkelgrünen Gehölzen im wechselnden Licht und vor allem das Wasser, das kam und wieder verschwand, eine Schlickfläche zurückließ, mit einem Priel und Reihern darin und alten Männern, die nach Muscheln gruben, bis die Flut kam, wie jetzt, aufgewühlt vom Sturm." Dagegen: "Aber vor allem, ich mochte die, ehrlich, die gefiel mir, die Vera, ja, ich war scharf auf die, richtig scharf, ein wahnsinniges Weib. Der Gedanke, daß die jetzt da zum Bumsen antraten, hat mich doch ziemlich sauer gemacht, nicht gerade wütend, werd ich eigentlich nie, und schon gar nicht mit so einem Kopp, aber sauer schon."

Man möchte allenfalls bemängeln, daß hier oft "ich" gesagt wird, aber selten oder nie authentisches Ich gemeint ist. Gelegentlich ist sogar der Erzähler dieser Geschichten selbst nur ein Zuhörer. Er ist der eher langweilige Typ von nebenan, dem ein außergewöhnlicher Mensch aus seinem aufregenden Leben erzählt. Über diesen Umweg offenbart sich der Autor dann schließlich doch noch: Uwe Timm ist einer, der erzählen läßt, er ist ein Geschichtensammler.

Obwohl seine Erzählerfiguren nicht gerade mit der moralischen Keule umherschleichen, scheint sich doch gelegentlich im Hintergrund ein Zeigefinger zu erheben. So gerät "Der Mantel", die Geschichte um die alte Frau auf der Treppe, ziemlich plakativ. Die Frau ist arm, sie wird wegsaniert, sie hat ihren Mann im Krieg verloren, ihr Leben ist voller verpatzter oder vertaner Gelegenheiten, und jetzt fällt ihr geliebter und entbehrungsreich erworbener Pelzmantel den Spraydosen radikalisierter Tierschützer zum Opfer. Das ist ein bißchen zu dick und riecht stark nach Betroffenheit. Was ein Charakterbild hätte werden können, gerinnt zur Demonstrationsfigur, ein Vorwurf, der schon gegen die frühen Romane des Autors erhoben wurde.

Ganz anders die titelgebende Geschichte. Wenn Uwe Timm die Ich-Erzählerin darüber sinnieren läßt, warum mit diesem Mann alles so anders ist, zeigt er, daß er seinem poetologischen Programm einer "gesteigerten Form der Sinneswahrnehmung, auch der Sinnwahrnehmung" ohne Stereotypien gerecht werden kann: "Es ist so anders, weil das Herz, dieses dumme Herz, seinen ihm gemäßen Schlag sucht, schnell, die winzigen Reize, diese zarte Berührung in eben dem Moment verlangt, und so sich selbst, also auch seine Wünsche vergißt und durch den anderen zu sich selbst findet. Und das Aussprechen, im richtigen Moment, was man selbst aussprechen würde und so, daß es nicht in den immer gleichen Worten gesagt wird, nicht in Worten, die man erst waschen müßte".

Titelbild

Uwe Timm: Nicht morgen, nicht gestern.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999.
ca. 160, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3462028014

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