Das vorweggenommene Ende der Erzählbarkeit

Nicolas Pethes' Studie zu "Poetiken der Erinnerungen und Destruktion nach Walter Benjamin"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kulturelles Gedächtnis, Erinnerung, Memoria - zweifelsohne sind diese Themen seit einigen Jahren mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses der Kulturwissenschaften gerückt. Einer der Gründe für diesen Boom scheint darin zu liegen, dass der Kultur der Moderne aufgrund ihrer Traditionsbrüche und Traditionsverluste im Zeichen der Aufklärung, der unaufhaltsamen Technisierung, der Medienmetamorphosen und des Historismus eine eigentümliche Faszination durch das Phänomen der Erinnerung eignet, die sich in Phasen einer kritischen Auseinandersetzung mit der Moderne besonders intensiv ausprägt. Die Veröffentlichungen zum Thema des Gedächtnisses und der Erinnerung mehren sich signifikant, wobei die dabei oftmals zutage tretende Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen überrascht. Einer der Katalysatoren dieser 'Mnemohysterie' - der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann - äußerte bereits vor zwölf Jahren die Vermutung, dass "sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder - Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zusammenhängen sehen läßt".

Die Diskussionen um das zentrale Mahnmal für den Holocaust haben - die Virulenz dieses Themas markierend - auf bisweilen exorbitante Weise verdeutlicht, daß die Frage nach einem kulturellen Gedächtnis der Deutschen ein Politikum ersten Ranges ist. Jede Erinnerung an deutsche Kultur und Geschichte wird primär durch das Medium nationalsozialistischer Vergangenheit wahrgenommen. 'Weimar' und 'Buchenwald' als spezifische deutsche Erinnerungsorte sind und bleiben in wechselseitig unmittelbarer Nähe. Deshalb ist 'Kultur' in Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts daran zu messen, wie sie mit dem Gedächtnis der politischen und moralischen Katastrophen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts umgeht. In diesem Zusammenhang nun ist es von besonderem Interesse, dass sich die Dichotomie von Erinnern und Vergessen, Kontinuität und Bruch vor allem im Denken vieler deutscher Juden wie Walter Benjamin, Gershom Scholem, Franz Kafka, Hannah Arendt u.a. als eine zentrale Figur ihrer Reflexion über die Moderne einzeichnet. Ist das Problem des Bruchs der Tradition bereits Allgemeingut des Selbstverständnisses der philosophischen und literarischen Moderne, so potenziert sich dieses Problem in der Erfahrung der deutschen Juden. Die Tatsache, dass die Erfahrung der Moderne problematisch geworden ist, wie Benjamin im Lesskow-Aufsatz und im Prosastück "Erfahrung und Armut" hervorhebt, impliziert, dass sowohl jene "einheitliche und kontinuierliche Mannigfaltigkeit der Erkenntnis" als auch die "Konjunktion", deren Index die Tage des Eingedenkens, des Verschmelzens von "mémoire volontaire" und "mémoire involontaire", von individueller und kollektiver Vergangenheit waren, gesprengt werden. Die Erfahrung der Moderne steht unter dem Zeichen des Aufschubs, der Ent-stellung, der Unterbrechung, des Fragments und nicht zuletzt des Vergessens; jene Erfahrung, die Benjamin in seinen spätesten Aufzeichnungen "Über den Begriff der Geschichte", ohne ihr künftiges Ausmaß kennen zu können, vorausahnte, und dessen Figur die Wirklichkeit in den Todeslagern der Nationalsozialisten kennzeichnen sollte. Die Diskontinuität, die Destruktion, die schockartige Unterbrechung und Zersplitterung, aber auch der Begriff des "Eingedenkens", die Benjamin in seinen zeitlich späteren Texten analysiert, sind Figuren und Indizien eines umfassenden, historischen wie kulturellen, Syndroms, das als die brüchige Konstitution der Moderne bezeichnet werden könnte und vor allem in vielfältiger Weise das deutsch-jüdische Denken der Moderne prägt.

Das Werk Walter Benjamins steht sicherlich genau im Brennpunkt dieser ausschweifenden Debatte um die Krise des Erinnerns in der modernen Ästhetik. Die hier anzuzeigende Studie von Nicolas Pethes verdeutlicht, wie Benjamins "Poetik der Erinnerung und Destruktion" sich zwar in der Auseinandersetzung mit der seit Platon bekannten Konstellation von Gedächtnis und Schrift artikuliert, gleichzeitig aber gegen Kontinuitäten der Überlieferung und die Konstruktion von Geschichte anschreibt. Pethes' Untersuchung widmet sich zum einen der Frage, welche Relevanz der Destruktion für das Denken der Erinnerung zukomme, und zum anderen, wie stark der Diskurs der Literatur Benjamins Erinnerungstheorie durchdringe. Das fehlende poetologische Konzept innerhalb der Memoria-Debatte soll deswegen "anhand eines erinnerungstheoretischen Entwurfs der Moderne entwickelt werden", in dem Modi der Diskontinuität, Destruktion oder Vergessenheit - stärker als bisher geschehen - in das Zentrum der Betrachtung rücken. Exakt diese Polarität von Erinnern und Vergessen, Kontinuität und Diskontinuität, Konstruktion und Destruktion spiegeln Benjamins Schriften in extenso. Dieses Konzept erlaubt es, die Annahme, derzufolge die Erinnerung dem konstruktiven und das Vergessen dem destruktiven Prinzip der Memoria zuzuordnen sei, grundsätzlich zu hinterfragen.

In einem ersten Teil diskutiert Pethes die Gebundenheit der Erinnerung an das zentrale Medium der Schrift, die "als dominante und vor allem konstitutive Metapher das Denken des Gedächtnisses" präge, wobei die Struktur der Schriftlichkeit in erster Linie die Frage nach ihrer Lesbarkeit impliziere. In Abgrenzung gegenüber einer Lesart von 'Schrift' als gelingender Repräsentation, aber auch gegenüber Derridas Begriff der écriture und der polyvalenten différance - als den Zentralmetaphern poststrukturalistischer Theoriebildung - entfaltet Pethes Benjamins Konzept der graphé: Diese ist "die Geste, die die Erinnerung entwirft, ohne die vollständige Präsenz des Vergangenen zu behaupten, nicht nur Erinnerung an das mimetische Vermögen, sondern selbst nurmehr Erinnerung im Zeitalter der öffentlichen und verstreuten Schrift am Ende des Buches." Obwohl auch Benjamins "Heuschreckenschwärme von Schrift" der Moderne eine der dissémination vergleichbare Bewegung der Zerstreuung von Verweisen vollziehen, verlieren diese aber -gänzlich anders als bei Derrida - weder den Bezug zu einem früheren Stand der Ähnlichkeit noch die Referenz auf das messianisch-utopische Moment einer späteren Wiederherstellung von Leib und Zeichenkörper. Sichtbar wird hier die Opposition zwischen gedächtnisbewahrendem traditionellen und gedächtniszerstörendem modernen Schreiben, das in der späteren Konstellation nach Auschwitz einen noch stärkeren Ausdruck finden wird. Pethes zeigt kenntnisreich und detailliert, wie noch der gedächtnisbewahrende Impuls seinen Durchgang durch moderne Medialität nehmen muss, so dass es sinnvoll anmutet, die Differenz von Konstruktion und Vergessen in dem heuristischen Begriff der graphé zu bündeln. Die graphé erscheint als materielle Spur eines Verweises, die an dieses Verweisen noch zu erinnern vermag, als - um mit Benjamins bekannter Wendung aus dem Proust-Essay zu sprechen - "der im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre sürrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt". Nach Pethes ist die graphé "die mnemonische Form [scil. der Zirkelbewegung zwischen Erinnern und Vergessen], die gestische Materialisation dieses Umschlags, in dem Erinnerung als Konstruktion und Destruktion der Vergangenheit in Texten statthat". Deren Oszillieren zwischen einer Absage an Referenz und gleichzeitigem Festhalten eines Anspruchs auf Erinnerbarkeit bestimmt Benjamins Poetik der Erinnerung. Der Diskurs der graphé entfaltet entlang seiner Leitfiguren der 'Allegorie', des 'Aufschubs' und der 'Sprachlosigkeit' eine grundsätzlich destruktive Geste bei der Formierung der literarischen Erinnerung.

Teil II der Untersuchung geht dem Spiel der "Erinnerungsschrift" zwischen Konstruktion und Destruktion im Kontext von Benjamins eigener literarischer Produktion nach. Anhand unterschiedlicher Textgruppen - analysiert werden Tagebücher, Erzählungen, Rausch- und Traumprotokolle, Gedichte und nicht zuletzt die beiden Buchprojekte "Deutsche Menschen" und "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" - wird der Status einer Poetik der Erinnerung als Poetik der Destruktion entfaltet. Die abschließenden Teile III und IV stellen die Frage nach der Referenz wie der Zeitlichkeit der Erinnerung. Der besonders in Benjamins Spätschriften sich herauskristallisierende radikale Gegenwartsbezug der Erinnerung im Hinblick auf ihre 'Jetztzeit' bildet den Boden für eine Konjunktion von Poetik und Geschichtsphilosophie der Moderne, die nicht mehr geschlossene Formen, kontinuierliche Überlieferungen, sondern eher diskontinuierliche Texte konzipiert. In dieser Spannung aus Kontinuität und Bruch steht Benjamins Theorie der Erinnerung, wie sie etwa in den Thesen "Über den Begriff der Geschichte" und im "Passagen-Werk" gestaltet wird. Die 'Unschreibbarkeit' dieser Werke fokussiert ein unabschließbares "Eingedenken", das "allein der aktuellen Anforderung, schweigendes Gedächtnis der stummen Opfer der Geschichte zu sein, gerecht wird". Das Programm eines 'Zerstören um zu Erinnern' bildet dabei den ethischen Fluchtpunkt des Benjaminschen Erinnerungsbegriffs.

Pethes' Untersuchung ist zweifelsfrei ein Meilenstein der Benjamin-Forschung. Sie ist besonders dort fruchtbar, wo Benjamin als Theoretiker und Praktiker der Schrift verstanden und in seinen Parallelen und Differenzen zu einer poststrukturalistischen Grammatologie beschrieben wird. Auch wenn einige sicherlich nicht unwesentliche Aspekte für Benjamins Schriftkonzept (jüdische Schrifthermeneutik, Benjamins Aufgreifen einer ästhetischen Kabbala) nicht oder nur am Rande erwähnt werden, gelingt es Pethes, in der Debatte um die Poetologie der Erinnerung einen destruktiven Diskurs zu etablieren und damit ein langjähriges Desiderat zu füllen. In diesem Zusammenhang ist es sicherlich nicht zu hoch gegriffen, wenn Pethes von Benjamin als einem wesentlichen "Kristallisationspunkt der Theoriebildung der Moderne" spricht und ihn als Präfiguration eines Diskurses liest, der im Schatten von Auschwitz zur vollen Entfaltung gelangt: in Vorstellungen einer Bewahrung von Undarstellbarem (Adorno), einer grundsätzlichen Skepsis bezüglich einer Verknüpfung von Sätzen nach Auschwitz (Lyotard) oder der Fragen nach Iterierbarkeit, sériature (Derrida) bzw. schöpferischen Erinnerungen (Deleuze). Die Debatte um die Darstellbarkeit des Holocaust rekurriert dabei auf ein Benjaminsches Axiom: Erinnerung vollzieht sich nur in Absage an Totalitätsansprüche, Repräsentation und die Rückkehr in ein Kontinuum. Diese Destruktion ist mit einer Formulierung von Georg Christoph Tholen als "Anamnese des Undarstellbaren" zu bezeichnen. Am Ende des 20. Jahrhunderts - angesichts des Völkermords an den europäischen Juden und der Frage nach dessen Darstellbarkeit in den Medien Literatur, Film und Kunst - bleibt einzig die Erkenntnis, dass die Zerstörung der Referenzen selbst nicht mehr darstellbar ist, gleichzeitig aber alles dasjenige als Unsichtbares bewahrt wird, was unter der Herrschaft der Repräsentation verborgen bleiben muß.

Es ist das große Verdienst von Pethes' Studie, Walter Benjamin als Autor einer Theorie von Erinnerung und Schrift zu lesen, verstanden als stumme Erinnerung des Aufschubs der Verfügbarkeit des Vergangenen. Unerzählbarkeit, Transgression und Stummheit sind Figuren, in denen sich die paradoxe moderne Erinnerungspoetik in den Schriften vieler deutsch-jüdischer Denker entfaltet, nirgends aber so prägnant wie bei Benjamin. Die von Benjamin unter dem Eindruck nationalsozialistischen Terrors entwickelten Theoreme des Namenlosen, der Aporie und der Inkommensurabilität des Eingedenkens weisen voraus auf das Dilemma eines Erinnerns und Schreibens nach Auschwitz, in dem es gerade um die Unmöglichkeit und den Entzug der Erinnerung geht, die folglich als Wunde, Riss, Zäsur, Bruch, kurzum als nicht zu verwertender Rest und 'Leerstelle' der Kultur übrig bleibt.

Titelbild

Nicolas Pethes: Mnemographie.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000.
462 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3484630213

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