Patriotismus ist die größte Schweinerei

Vilém Flusser über die Freiheit des Migranten

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1920 in Prag geborene Philosoph und Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser verbrachte den größten Teil seines Lebens im Exil. 1940 erreichte er auf der Flucht vor den Nazis London, von dort ging er nach nur kurzer Zeit nach São Paulo, um sich Anfang der 70er in Frankreich niederzulassen. Seine Geburtsstadt Prag, die er nach mehr als 40 Jahren Exil aufsuchen wollte, sah er nicht wieder. Auf dem Weg dorthin kam er 1991 in der Nähe der deutsch-tschechischen Grenze bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Der Philo Verlag hat nun seine 1994 unter dem Titel "Von der Freiheit des Migranten" erstmals erschienenen Texte wieder aufgelegt. In ihnen befasst er sich etwa mit Nationalsprachen, tritt für eine Philosophie der Emigration ein, sinnt über Wohnwagen und Gastarbeiter nach oder wirft die Frage auf, ob es noch immer eine französische Nation gibt. Die meist nur wenige Seiten umfassenden Artikel, Manuskripte und Essays sind stets originell. Fast immer findet sich eine Spur Ironie in ihnen und manchmal auch mehr als nur eine Spur, wie etwa in dem Text über den "Wohnwagen", dessen, "Industriecharakter" beweise, "daß er gut zum Fahren" sei, während "sein Kitschcharakter [...] gut zum Wohnen" sei.

Wenn Flusser Kritik zu üben hat, spart er an deutlichen Worten nicht. "Gegen Kretinismus ist kein Kraut gewachsen" heißt es einmal, ein andermal "Wenn ich mich aus freien Stücken, aus heißer Liebe zum Vaterland, einer Bindung bis zum Tode unterwerfe, dann bin ich ein Verbrecher und ein Trottel"; und sein Verdikt "Patriotismus ist die größte Schweinerei" ist angesichts der allgegenwärtigen Vaterlandsbekenner geradezu erfrischend.

Doch sind nicht alle Texte in jedem Punkt überzeugend. So muss man etwa nicht mit seiner Auffassung übereinstimmen "daß 'Mensch im vollen Sinne dieses Wortes' und 'Vertriebener' synonym" seien oder "daß der Tourismus in der Gegenwart eine Rolle einnimmt, die ungefähr der Rolle entspricht, welche die Theorie im klassischen Altertum" spielte.

Zu den zahlreichen originellen Auffassungen Flussers zählt die positive Bewertung des Exils, der Heimatlosigkeit und des Migranten. Es sei von "Vorteil, keine Heimat zu haben", formuliert er provokativ und behauptet, die "ungezählten Millionen von Migranten", zu denen er sich natürlich zu Recht selbst zählt, die "Fremdarbeiter, Vertriebene[n], Flüchtlinge" seien nicht so sehr Außenseiter, sondern mehr noch "Vorposten einer neuen Zukunft," keine "bemitleidenswerte[n] Opfer, denen man helfen sollte, die verlorene Heimat zurückzugewinnen," sondern "Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut folgen" solle. Denn Migration, so Flusser, sei eine "schöpferische Tätigkeit". Aber, und das verkennt er natürlich nicht, hat er die Erfahrung doch selbst über lange Jahre hinweg machen müssen, "sie ist auch ein Leiden". Daher, so schließt er, "können sich derartige Gedanken nur die Vertriebenen, die Migranten, nicht aber die Vertreiber, die Zurückgebliebenen erlauben."

Bedeutet ihm Heimatlosigkeit Freiheit und Kreativität, so assoziiert er Heimat - und hier ist man ohne weiteres bereit, ihm zu folgen - mit "Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen". Sie sei nichts weiter als "die Sakrilisation von Banalem", die "den in sie Verstrickten" blende. Erst nachdem diese Verstrickung überwunden sei, werde "freies Urteilen, Entscheiden und Handeln" möglich. "Ich wurde", so führt er aus, "in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden." Ganz Anderes ist im Exil möglich: "In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen." So gelangt er schließlich doch zu einem positiv konnotierten Heimatbegriff: "'Heimat' sind für mich Menschen, für die ich Verantwortung trage."

Die in dem Band versammelten Essays zu Exil und Migration sind fast ausnahmslos lesenswert. Eine "Philosophie der Emigration" stellen sie jedoch nicht dar, wie Flusser natürlich auch selber weiß. "Aber", so fordert er in einem der Texte, "sie sollte geschrieben werden." Diese Arbeit ist noch immer zu leisten. Flusser selbst ist nicht mehr dazu gekommen.

Titelbild

Vilém Flusser: Von der Freiheit des Migranten.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2000.
142 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3825701948

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