Bürgerliche Trauerspiele von Gryphius und Lohenstein
Cornelia Niedermeier über bürgerlich-oppositionellen Gehalt und rationalistische Körperkritik im Theater des 17. Jahrhunderts
Von Arnd Beise
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls die beiden größten deutschsprachigen Dramatiker des 17. Jahrhunderts gelten gemeinhin Andreas Gryphius (1616 - 1664) und Daniel Casper von Lohenstein (1635 - 1683). Beide waren sie hauptberuflich als Juristen in ihrer schlesischen Heimat tätig, der eine als Syndicus der Land-Stände von Glogau, der andere als Anwalt und Syndicus der Stadt Breslau. Beider Anliegen war die Selbständigkeit der protestantischen Territorien, denen sie dienten. Angesichts der aktiven Rekatholisierungspolitik des kaiserlichen Hofs in Wien keine einfache Aufgabe. Beide aber bewährten sich in dieser Hinsicht als erfolgreiche Politiker. In ihrer Selbsteinschätzung dürfte diese Arbeit bedeutsamer gewesen sein als der Ruhm eines großen Dichters, den sie beide gleichsam nebenbei schon bei ihren Zeitgenossen erwarben.
Das Anliegen Cornelia Niedermeiers ist, die Dramen von Gryphius und Lohenstein "inhaltlich wie formal zu lokalisieren in ihrer exemplarischen Bedeutung als literarische Höhepunkte eines protestantisch-bürgerlichen Aussagewillens inmitten des Habsburgischen absolutistischen Staatsgefüges". Zu diesem Zweck trennt sie den "essentiell bürgerlichen Gehalt" dieser Dramen von ihrer "höfisch-repräsentativen Form", besser gesagt, sie versucht zu erweisen, dass die Form aufgrund ihrer Rhetorizität sich für Hof und Bürgertum gleichermaßen als Einkleidung des Gedankens eignete.
Merkwürdigerweise kommen nun die Dramen von Gryphius und Lohenstein in Niedermeiers Buch so gut wie gar nicht vor. Stattdessen erfährt man einiges über Breslauer Geschichte, die Sprach- und Schulreform-Bewegung des 17. Jahrhunderts, die Rhetorik dieser Zeit, die Bewertung der Affekte, die Einschätzung politischen Machtstrebens durch die zeitgenössischen Ideologen, die Entwicklung des Schultheaters in Breslau, das Legitimationsproblem des Dichters, den Schauspielstil des rhetorischen Theaters, die Gebärdensprache des Hofes und die Annäherung des Bürgertums an die höfischen Sitten. Der historische und geistesgeschichtliche Kontext der Dramen also wird entfaltet, und dies auf eine souverän-überblickende und ansprechend-unterrichtende Art. Man kann dieses Buch als eine kluge Einführung in die geistige Welt des 17. Jahrhunderts bezeichnen.
Die Arbeit ist von einem ideologiekritischen Interesse unterlegt, das auf Zweierlei zielt: erstens gegen die traditionelle Auffassung von der 'barocken' Literatur und speziell des so genannten schlesischen Kunstdramas als emblematische Exempel der vanitas-Lehre und affirmative Feier der Macht zugleich; und zweitens gegen den festen Glauben an die alles besiegende Kraft der Ratio bei den Dramatikern des 17. Jahrhunderts selbst.
Ersteres ist allerdings so neu nicht und weitgehend dem Umstand geschuldet, dass sich Niedermeier an älteren, und veralteten, Standardwerken orientiert und die jüngste Forschungsliteratur kaum zur Kenntnis nimmt. So richtig es ist, die "hochgradig politisierte Grundhaltung der bürgerlichen Intelligenz des 17. Jahrhunderts" zur Grundlage der Analyse zu machen und den oppositionellen Gehalt in der "scheinbaren höfischen Anpassung" aufzudecken: Die Präzision der Analyse leidet unter dem unhinterfragt wirkenden Gebrauch von 'Großbegriffen' wie "Bürgertum/bürgerlich", "Absolutismus/absolutistisch", "Hof/höfisch", "Protestantismus/protestantisch" und vor allem "Barock". Vielleicht täte man gut daran, darauf eine Weile zu verzichten, wie es Brecht nach dem Krieg für das Wort "Volk" vorschlug. Was unter den pauschalen Etikettierungen verloren geht, ist nämlich die Binnendifferenzierung: die verschiedenen Fraktionen der protestantischen Staatstheorie zum Beispiel (Melanchthon und Grotius auf der einen, die Priorität göttlichen Rechts betonenden Seite; Bodin und Lipsius auf der anderen, den zweckrationalen Staat propagierenden Seite); die daraus resultierenden Unterschiede zwischen Gryphius und Lohenstein, die bei Niedermeier allzu sehr als gleichsinniges Dioskurenpaar erscheinen; und die Vorurteilslosigkeit, mit der etwa Lohenstein sich auch des katholischen und speziell jesuitischen Gedankenguts bedient, um aktuelle Probleme der Zeit zu diskutieren.Von längst ad acta gelegten Vorurteilen sind auch verschiedene Wertungen Niedermeiers geprägt, zum Beispiel die höhere Schätzung von Gryphius als "deutlich sprachmächtigeren der beiden Dichter", bei gleichzeitigem Tadel für den "linkischen Umgang" mit Sprachbildern bei Lohenstein. Was in der jüngsten Forschung eher umgekehrt gesehen wird, wenn man auf solch problematische Wertungen nicht lieber ganz verzichtet.
Ein zweites wichtiges Interesse Niedermeiers gilt der Kritik des 'barocken' Theaters an sich, genauer gesagt dessen "ungebrochenem Glauben an den Sieg der Ratio". Die eindeutige Parteinahme für die Vernunft sei der schlimmste Fehler, den die Dramatiker und Theaterleute des 17. Jahrhunderts begingen. Mehr noch: dies sei ein "Vergehen" der Ratio selbst, denn sie leugne damit die Ambivalenz der körperlichen Präsenz, "die Vertrautheit, und die Lust, die der Körper ihr barg". Dies aber scheint mir eine romantisch beeinflusste Grundsatzkritik am Rationalismus nicht nur des 17. Jahrhunderts zu sein, die dem behandelten Gegenstand unangemessen ist. Solche Positionen lassen sich nur von der nicht unbedingt höheren Warte des 20. Jahrhunderts aus formulieren, wenn man genug Freud und Benjamin gelesen hat, welche in dieser Arbeit punktuell allzu sehr als beglaubigende Autoritäten herhalten. Ich wüsste nicht, in welcher Zeit die Macht des Affekts über die Ratio höher eingeschätzt wurde als im 17. Jahrhundert. Freilich wollten die Autoren der Zeit niemals die Unterwerfung der Ratio unter den Affekt propagieren, sondern umgekehrt hofften sie auf den Sieg der Vernunft. (Worin ich kein "Vergehen" erkennen kann.) Unterschätzt oder verleugnet haben sie die "Lust" nicht. In Niedermeiers Versuch, "idealtypisch den Schauspielstil des rhetorischen Schultheaters zu rekonstruieren", wird denn auch ganz zu Recht konstatiert, dass die körperliche Präsentation des Affekts im Zentrum der Schauspielkunst (wie in der Malerei und den darstellenden Kunsten überhaupt) stand. Ihre Überlegungen zur Dialektik der körperlichen Darstellung der Affekte, die in der Darstellung auf ihre Bändigung zielen, unterstreichen noch einmal mehr das Wissen um die Macht der Triebe, als dass sie deren Verleugnung belegten.
Niedermeiers Buch reizt zum Widerspruch in verschiedenen Punkten, weil es diesen Widerspruch zulässt. Die Autorin versteckt sich nicht hinter alles im Unklaren lassenden verquasten Formulierungen, sondern weiß treffsicher und bestimmt zu schreiben. Das von ihr ausgebreitete Quellenmaterial ist sehr gut ausgewählt und in mannigfacher Hinsicht anregend. Auf dieser Grundlage lässt sich weiterarbeiten und das, was hier im Überblick präsentiert wird, in historisch differenzierteren Studien zu einzelnen Gegenständen präzisieren, mitunter wohl auch widerlegen. Eine Widerlegung provoziert zu haben, wäre im Übrigen auch ein Verdienst dieser Studie.