Von der heiligen zur bürgerlichen Familie

Albrecht Koschorke über die Heilige Familie und ihre Folgen

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Heilige Familie gehört zu den Eckpfeilern der christlichen Überlieferung und hat, betrachtet man die weihnachtlichen Krippen in den Wohnzimmern, selbst in agnostische oder atheistische Haushalte Einzug gehalten. Im Gegensatz zu ihrem theologischen Sinn ist ihre soziale und kulturelle Bedeutung bis heute allerdings kaum untersucht worden. Einschlägige Titel zur Heiligen Maria, zu Joseph oder zu Jesus untersuchen die einzelnen Personen auf Grundlage der Bibelexegese, nicht aufgrund der Aneignung und Verwendung in profanen oder kulturwissenschaftlichen Kontexten. Albrecht Koschorke hat sich in seinem Buch "Die Heilige Familie und ihre Folgen" die Mühe gemacht, die "Logik kultureller Phantasmen" zu untersuchen, die dem Vermittlungsgeschehen zugrunde liegt, um die Wirkung der Heiligen Familie über den theologischen Rahmen hinaus zu verstehen.

Das Buch enthält drei gleichgewichtige Teile, die mit den Begriffen "Dispositionen", "Theorien" und "Konsequenzen" überschrieben sind. Die "Dispositionen" beschäftigen sich mit dem strukturellen Feld der Heiligen Familie (Maria-Joseph-Jesus vs. Maria-Heiliger Geist-(Gott)-Christus) und zeigen die Veränderungen in der Beurteilung der einzelnen Positionen im Verlauf der Rezeption auf. Im Theorie-Kapitel beschäftigt sich der Autor mit psychologischen und psychoanalytischen Deutungen der biblischen Stoffe bei Sigmund Freud und Herbert Marcuse sowie den sozialpsychologischen und soziologischen Grundlagen der Religion, die er mit den Ansätzen von René Girard, Max Weber und Robin Fox erläutert. Koschorke entwickelt aus den verschiedenen Ansätzen die Stichworte, anhand derer er die Vermittlung der Heiligen Familie durch die Jahrhunderte verfolgen will, darunter das Inzestverbot und die Frage der Macht und Gewalt. Das Kapitel endet mit einer Skizze des Einflusses der Heiligen Familie auf den Prozess der Staatsbildung.

In den "Konsequenzen" vertieft der Verfasser einzelne Phasen der Entwicklung des Christentums. Er konzentriert sich auf synchrone und diachrone Aspekte einer Sozialgeschichte des Christentums. So deutet der Autor beispielsweise die unterschiedliche Auslegung der Heiratsvorschriften vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Situation der Kirche. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt die Heilige Familie wieder bei der Darstellung der Entwicklung der modernen Kleinfamilie, die zumindest strukturell die größte Ähnlichkeit mit der Heiligen Familie aufweist (Vater-Mutter-Kind oder Staat-Vater-Mutter-Kind).

Der Autor arbeitet in seinem Buch grundsätzlich mit der Aufdeckung von Widersprüchen, Inkonsistenzen oder Brüchen. Er eröffnet seine Untersuchung mit der Feststellung, dass "der christliche Symbolismus der Einheit", der auf dem Prinzip der Zweiheit beruht, "ein bemerkenswertes Übergewicht über die Gegenkraft der Alterität" hat. Der jeweils dritte Term (in der Reihe Vater-Mutter-Kind) soll auch über eine trennende Kraft verfügen. Warum aber das Prinzip der Zweiheit quasi natürlich für die Einheit stehen soll, die ungerade Zahl aber zu Trennungen führt, ist inhaltlich nicht recht nachzuvollziehen. Das Überlieferungsgeschehen im Fall der Dreieinigkeit zeigt, dass auch Dreiheit für Einheit stehen kann, wie es auch denkbar ist, dass Zweiheit als Mangel empfunden wird. In diesem Punkt wird vom Verfasser die Zweiheit erst mit "Natürlichkeit" identifiziert, um sie dann zu suppositionieren und in differentielle Bewegungen zu überführen.

Die Untersuchungen der Strukturen, in die die Heilige Familie eingebunden ist, zielen darauf, die Brüchigkeit und Vieldeutigkeit der biblischen Vorgaben zu betonen. Koschorke zeigt sogar, dass Jesus selbst im Grunde gegen die Heilige Familie verstößt, wenn er die Gemeinschaft der Jünger höher einschätzt als die der Familie (vgl. Lk 14, 26), und er zeigt, dass Maria und Joseph, will man sie sich als reale historische Personen vorstellen, mit der jüdischen Kultur brechen mussten, um die Jungfrauengeburt sozial zu überleben - dem Christentum wird damit die schwierige Aufgabe gestellt, seine Anfänge retrospektiv zu 'christianisieren'. Als Ziehvater muss Joseph einen schweren Stand gehabt haben, und er ist möglicherweise mit der Scham konfrontiert worden, sein Kind nicht selbst gezeugt zu haben. Koschorkes Untersuchung der Josephfigur kulminiert in der These eines Joseph-Komplexes. Er soll darin bestehen, dass nach Joseph die zentralen Instanzen nur noch in einer Doppelung bestehen: "Vater (Joseph/Gott)", "Mann (leiblicher Ausschuß/himmlische Ergießung)", "Ursprung (durch Blutverwandtschaft/spirituell)" u.a.m. Der christliche Monotheismus muss aber nicht notwendigerweise als eine Geschichte der Spaltung der Vaterfunktion "in den empirischen und den transzendenten Part" verstanden werden. Joseph ist nicht Gott und Gott ist nicht Joseph. Für beide gelten ganz unterschiedliche Existenzbedingungen. Was ohne Anfang und Ende gedacht wird, lässt sich kaum doppeln. Wer einen Anfang und ein Ende hat, wird sich kaum für einen Gott halten (diese Differenz ist so stabil, dass sie selbst den Wahnsinn noch mit strukturiert: wie Douglas R. Hofstadter und Daniel C. Dennett in ihrem Buch "Einsicht ins Ich" berichten, gibt es Schizophrene, die sich für Jesus halten; davon, dass sich solche Personen für Gott halten, wird nicht berichtet). Möglicherweise lässt sich eine Figur wie Joseph verdoppeln, das Ergebnis der Doppelung bleibt jedoch innerweltlich konkret.

Eigentümlich ist an dieser These der Trennung und Verdoppelung die Reduktion des Vaters auf eine einzige Funktion, die dann geteilt wird: Väter haben, psychologisch betrachtet, für ihre Kinder in der Regel viele Funktionen; die eine große Vaterfunktion muss hier als analytische Fiktion betrachtet werden. Man ahnt als Leser den Referenztext, auf den der Autor anspielt: Die Unterscheidung 'empirisch-transzendent' scheint eine Übernahme von Michel Foucaults These vom Menschen als der "empirisch-transzendentalen Doublette" zu sein. Foucault wollte damit die besondere Situation des Menschen im 19. Jahrhundert beschreiben, der in einen Begründungsnotstand gerät, weil er das ununterbrochen verfehlt, was ihm vorgängig ist. Dagegen zeigt die empirisch-transzendente Spaltung bei Koschorke keinen Mangel an begründeter Selbstsetzung - alles nimmt seinen Anfang in Gott -, sie belastet aber den Menschen in einer anderen Art und Weise: ohne dass er es weiß, soll sein Glaube von Spaltungen, Trennungen oder Brüchen geprägt sein.

Der strenge strukturelle Zugriff und dessen poststrukturale Erweiterung wirft die Frage auf, ob die "Logik kultureller Phantasmen" überhaupt in der vorgetragenen Form gelesen werden kann. Die Unschärferelationen des christlichen Familienmythos ermöglichen, wie auch der Autor bemerkt, einen "breiten Spielraum für Aneignungsakte und Bedeutungstransfers". Aber nicht nur die Unschärfen, auch die biblischen Erzählungen sprechen gegen die dekonstruierende Lektüre. Ihnen liegt eine multidimensional symbolische Struktur zugrunde, wie sie Derrida in der "Grammatologie" als von der Linearität der Schrift verdrängtes Textgewebe beschreibt. Nur für den Logiker führen Unschärfen zum "Numinosen, Unnahbaren, Abgründigen, Durchbrochenen, Liminalen der Heiligen Familie". Ob ein Wunder sich dem strukturellen Denken fügt, kann mit Recht bezweifelt werden.

Koschorke beschäftigt sich eingehend mit der Ikonographie der Heiligen Familie, insbesondere mit Marienbildern. Aufschlussreich ist hier vor allem die Darstellung der Beziehung von Maria zu Jesus. Besonders die in der Rezeption des Stoffes stark betonte Beweinung des Todes Jesu' in den Pietà-Darstellungen stärkt die Mutter-Kind-Dyade strukturell gegen Jesu' Hervorhebung der Jüngerschaft gegenüber der Familie. Daneben verweist auch die Auffassung der Beziehung zwischen Jesus und Maria als Allegorie für die mystische Ehe der kirchlichen Gemeinde mit Christus auf den Familiensinn der Gläubigen und ihren fehlenden Sinn für das Disseminale. Die ikonographischen Abschnitte enthalten insgesamt eine Tendenz, die christliche Überlieferung im Kontext konkreter sozialer Praktiken oder biologischer Verwandtschaftsbestimmungen vergleichend zu untersuchen. Dies gilt insbesondere für die These, dass die Vater-Sohn-Beziehung kein genealogisches Kontinuum stifte, sondern es vielmehr durchbreche: Joseph ist nicht der leibliche Vater, Jesus der Letzte in der unterbrochenen genealogischen Reihe.

Die Heilige Familie hat nicht zuletzt zur Herausbildung der modernen Familie beigetragen. Nach Koschorke leitet Luther die Naturalisierung der Heiligen Familie ein; spirituelle und leibliche Dimension werden einander angenähert und ineinander überführt. Säkularisation und Resakralisierung wirken gleichzeitig auf die Entwicklung der Familie und des Staates ein. Für die Zeit um 1800 stellt der Autor dann fest, dass Theologie und Literatur (vor allem mit Rousseau und Kleist) die christlichen Topoi mit gegensätzlicher Tendenz in den Dienst nehmen. Selbst das 19. Jahrhundert, so Koschorke, verwendet die Heilige Familie als kulturelles Muster, denn auch die bürgerliche Familie nimmt sie zum Vorbild.

Koschorke versteht sein Buch als einen "Essay im buchstäblichen Sinn. Einen Versuch." Angesichts des umfassenden Themas kann die Annäherung an die Heilige Familie kaum anders als essayistisch vorgetragen werden; die Zahl der in dem Buch enthaltenen oder ableitbaren Thesen würde genügend Stoff für ein Lebenswerk abgeben. Das Buch ist das Ergebnis einer nicht unbedingt fröhlichen, auf jeden Fall aber heiteren Wissenschaft: "Das Christentum ist eine Sohnesreligion. Was immer das heißen mag, es schließt jedenfalls die Töchter aus der zentralen religiösen Figuration aus. Im übrigen handelt es sich um den einzigen Sohn" (Herv. W.F.). Wer so heiter auf Unbestimmtheit hinweist, hätte als Essayist Adornos Zustimmung wohl nicht gefunden, weil die Position des Autors hinter den verwendeten Ansätzen zu verschwinden droht. Der kulturwissenschaftliche Ansatz, der dem Buch zugrunde liegt, beinhaltet eine Reihe von Autoren, die methodologisch nicht miteinander zu vereinbaren sind: Koschorke verwendet den psychoanalytischen Ansatz zur Analyse von psychischen Phänomenen und die oben erwähnten Autoren Girard, Weber und Fox zur Analyse von soziologischen Phänomenen. Natürlich hat die Psychoanalyse ein Instrumentarium entwickelt, um soziale Phänomene zu beschreiben und natürlich hat die Soziologie Begriffe gefunden, die das psychische Geschehen erfassen. So wäre es konsequenter gewesen, sich für eine der Richtungen zu entscheiden. Die Heilige Familie ist mit vielerlei theoretischen Stützungsaktionen in der Postmoderne angekommen.

Titelbild

Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
240 Seiten, 13,20 EUR.
ISBN-10: 3596147654

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