Ohne Seil und doppelten Boden

Franco Volpis "Großes Werklexikon der Philosophie"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"By this art you may contemplate variation of the 23 letters". Dieses Robert Burtons Weltgemälde der Schwermut, der berühmten "Anatomy of Melancholy" entnommene Zitat wird vom Herausgeber einem Lexikon vorangestellt, an dem der Leser deutlich mehr bewundern kann als die unendlichen Variationen der Buchstaben des Alphabets. Das von Franco Volpi unter Mitarbeit von mehr als 300 Beiträgern - zumeist ausgewiesene Spezialisten für den jeweiligen Philosophen - besorgte "Große Werklexikon der Philosophie" gibt in zwei gestandenen Bänden Auskunft über die rund 1.800 bekanntesten und wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Werke der Philosophie. Der Schwerpunkt dieses Nachschlagewerks liegt auf der westlichen Philosophie, wobei allerdings auch Traditionen berücksichtigt werden, die auf unser Denken einen spürbaren Einfluss ausgeübt haben, z. B. aus dem jüdischen, arabischen, indischen, chinesischen und japanischen Sprachraum.

Die alphabethische Anordnung dieses grafisch sehr aufgeräumten Lexikons erfolgt nach Autoren. Über die einzelnen Philosophen informiert jeweils ein kurzer biographischer Abriss, eine Auflistung der Hauptwerke mit ihrem Veröffentlichungs- bzw. Entstehungsdatum sowie ein Verzeichnis der Werkausgaben und allgemeiner Sekundärliteratur. Wie aktuell die Beiträge dabei selbst bei geistesgeschichtlich unter die Räder gekommenen und seitens ihrer akademischen Zunftgenossen kaum eines Blickes gewürdigten Autoren ausfallen, beweist der Eintrag zu Philipp Mainländer. Die Verfasserin des Artikels weiß - unter anderem - um die 1999 abgeschlossene Werkausgabe dieses "Zombies übernächtigter Philosophie" (Ulrich Horstmann). Im Anschluss werden die jeweils wichtigsten Werke vorgestellt - eine Liste, die im Falle des Selbstmörders Mainländer freilich nur die "Philosophie der Erlösung" anführen kann. Auch der Leser, der den umgekehrten Weg beschreiten will und nach dem (unbekannten) Autor eines (bekannten) Werktitels fahndet, gelangt mit dem "Großen Werklexikon" an sein Ziel. Er bedient sich einfach des beigefügten Titelregisters.

Konzentrierte sich die bisherige philosophische Lexikographie fast ausschließlich auf Personen und Begriffe und behandelte sie die zugrundeliegende Literatur bisweilen mit stiefmütterlicher Ignoranz, so will die werkzentrierte Betrachtung die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Quellen und Grundlagen jedes Philosophierens zurücklenken helfen: die philosophischen Texte selbst. Mit anderen Worten: was auf den ersten Blick wie ein Produkt eines alexandrinischen Eifers oder einer selbstverliebten Stoffhuberei anmuten mag, entspringt in Wahrheit einer sehr genauen Vorstellung über das Zustandekommen philosophischer Erkenntnis. Das "Große Werklexikon" dient (wie übrigens auch sein kleinerer Bruder, das ebenfalls im Kröner-Verlag erschienene "Lexikon der philosophischen Werke") der ersten Orientierung, indem es zuverlässige Informationen über Titel, Inhalt, wichtige Ausgaben und Literatur präsentiert. Auf diese Weise will es zur direkten Auseinandersetzung mit den Schriften anregen.

Trotz dieses Bekenntnisses zur Primärliteratur darf die Kehrseite der Werkbetrachtung nicht verschwiegen werden. Durchweg mit Nichtachtung gestraft werden in diesem Lexikon Denker, die sich eines allzu arglosen Umgangs mit den Früchten ihres Geistes befleißigt und aus welchen Gründen auch immer versäumt haben, ihre Einsichten aufzuschreiben. Philosophen, von denen also weder Werke noch Fragmente, sondern nur Zeugnisse überliefert sind. Während der Leser auf der Suche nach Aristoteles auf wohlbestellte Bücherlandschaften stößt (das Lexikon enthält nicht weniger als 29 zum Teil sehr ausführliche Artikel zu den ,echten' und 20 Beiträge zu den ,unechten' Schriften des griechischen Denkers!) schlägt er unter "Thales" und "Sokrates" vergeblich nach. Geschichte, schreibt Voltaire einmal, hätten nur die Völker, die sich auch in der Lage sahen, diese in Geschichtsbüchern festzuhalten. Eine ähnliche Beschneidung um orale Traditionen wird man auch für die (im Lexikon diesbezüglich leider nicht näher problematisierte) Geschichte des Denkens zu konstatieren haben.

Natürlich ist es ein Leichtes, die Bücher aufzuzählen, die man in diesem Lexikon vermisst. So könnte man etwa dem Frankfurter Soziologen Hauke Brunkhorst vorwerfen, dass er sich bei seinen Artikeln über die Schriften des Gesellschaftstheoretikers Herbert Marcuse auf dessen "Eindimensionalen Menschen" und auf "Triebstruktur und Gesellschaft" beschränkt und der nicht minder folgenreiche "Versuch über die Befreiung" keine Beachtung findet. Dabei ist für solche und ähnliche ,Versäumnisse' wohl vor allem eine Eigendynamik umfangreicherer Nachschlagewerke verantwortlich: Gerade große Erschließungsbreiten produzieren paradoxerweise ein Surplus an Bedürfnissen und wecken immer neue Begehrlichkeiten. Man wünscht sich das Lexikon, eben da es so unerhört reichhaltig schon ist, noch vollständiger. Hat man sich aber von diesem Komplettierungswahn erst einmal befreit, so wird man vor allem die durchdachte Auswahl schätzen lernen.

Titelbild

Franco Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. 2 Bände.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1999.
1733 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3520829010

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