Der Mensch ist kein Uhrwerk

Johanna Geyer-Kordeschs Studie zum Verhältnis von Pietismus, Medizin und Aufklärung am Beispiel Georg Ernst Stahls

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrer bereits 1987 abgeschlossenen Habilitationsschrift, die erst jetzt in gründlich überarbeiteter Form unter dem Titel "Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert" vorliegt, hat die Medizinerin Johanna Geyer-Kordesch einen wichtigen Forschungsbeitrag zum Verhältnis von Frühaufklärung und der von ihr so bezeichneten "Instauratio" vorgelegt. Unter Instauratio versteht sie die "Vereinigung von neuverstandenem Glauben und moderner Wissenschaft", wie sie der Pietismus "auf der Suche nach einem besseren Verständnis von Gott - Mensch - Natur" anstrebte. Besondere Relevanz kam hierbei Georg Ernst Stahl zu, dessen Leben und Werk von der Autorin einer ausführlichen Würdigung unterzogen wird. Insbesondere zu Stahls bislang wenig erschlossener Biographie hat sie Neues zu sagen. Allerdings verliert sich Geyer-Kordesch gelegentlich in Belanglosigkeit; etwa wenn sie den verständlichen Wunsch nicht zügeln kann, den Lesenden all die von ihr entdeckten verwandtschaftlichen Bezüge mitzuteilen. Dass die Frau von Stahls Großvater Anna Margarethe Cöler sich in zweiter Ehe mit dem Priester H. Kaplan vermählte, aus welcher Verbindung eine ebenfalls Anna Margarethe genannte Tochter hervorging, die Johann Wolfgang Texter heiratete und somit zur Ururgroßmutter Goethes avancierte, war bislang zwar unbekannt, ist jedoch für das Leben und Werk Stahls ebenso irrelevant wie für das Verhältnis von "Instauratio" und Frühaufklärung.

Zwar hatten "Instauratio" und Frühaufklärung das Anliegen gemein, dem 'Volk' den Zugang zu den Wissenschaften zu erleichtern und publizierten ihre Schriften daher nicht, wie bis dato üblich, in der Gelehrtensprache Latein, sondern auf Deutsch. In zumindest zwei wesentlichen inhaltlichen Fragen unterschieden sie sich jedoch grundlegend. Zum einen setzte der Pietismus auf "inspirative Wahrheit", wohingegen sich die Frühaufklärung auf die "Sachautorität Natur" berief. Damit war ein zweiter - die Medizin betreffender - Unterschied bereits präjudiziert. Während die "empirisch-kausalmechanische Medizin" der Aufklärer im Anschluss an Hermann Boerhaaven den Körper von Geist, Verstand und Vernunft strikt trennte, vertrat Stahl einen Holismus, der "Körper und Seele als Einheit" verstand. Für diese Einheit führte er den "neuzeitlichen Begriff des Organismus" ein. Zu Recht sieht Geyer-Kordesch einen "wesentlichen Forschungsbeitrag" ihrer Arbeit darin, dass sie nachweist, wie stark der Einfluss der theoretischen und medizinischen Schriften Stahls auf die zeitgenössische "Kritik an der Vorherrschaft der Vernunft" und auf die "Skepsis gegenüber der dualistischen Trennung von Seele und Körper" war.

"Es ist mit dem Menschen nicht wie mit einer Uhr", zitiert die Autorin den hallensischen Mediziner, "daß ich an selbiger das zerbrochene Rad nur wieder ganz machen darff, wenn sie richtig gehen soll." Denn, so die Autorin zustimmend, Krankheit sei "ein Zustand, in dem sich der beseelte Organismus" umorganisiere. Bei Stahls medizinischer Theorie, so Geyer-Kordesch, habe es sich um die "erste moderne Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten Psychosomatik" gehandelt.

Stahls medizinische Publikationen waren sowohl von sozialgeschichtlicher als auch ideengeschichtlicher Relevanz. Denn zum einen lieferten sie der Erweckungsbewegung eine Begründung für ihre anthropologischen Auffassungen und zum anderen stellten sie die von der Aufklärung propagierte Rationalität als Richtschnur des menschlichen Denkens und Handelns in Frage. Mit Stahl kritisiert die Autorin an der Aufklärung, dass sie die "Medizin als 'bloße' Naturwissenschaft" verstanden und darauf abgezielt habe, "ihre Erkenntnisse als 'objektiv' bewertet zu wissen". Dies habe mehr bewirkt als die "scheinbar neutrale Anreicherung von wissenswerten, überprüfbaren Fakten". Vielmehr habe die Aufklärung der Wissenschaft und der menschlichen Erkenntnis somit ein "ganzes Feld von Erfahrungen" entzogen. In ihrem aufklärungskritischen Eifer fließen der Autorin gelegentlich ungewohnt polemische Bemerkungen gegen die "Unfehlbarkeit" derer Methoden aus der Feder. Sie habe allein darauf gegründet, dass die Aufklärung selbst "und keine andere Wissenschaft" ihre Ergebnisse "kontrolliert und revidiert" habe. Auch bricht sich Geyer-Kordeschs unverkennbare Sympathie für Stahls Aufklärungskritik und seine holistische Medizin manchmal in etwas hilflosen Bemerkungen Bahn. Etwa, wenn sie herausstreicht, dass Stahl das "'Lebendige' als geistig und körperlich" verstanden habe und versichert, es sei "eigentlich bis heute nicht erwiesen, daß dem nicht so sei". Denn, so die Autorin, "die ontologische Größe 'Natur'" lasse "mehr als eine Methodik" zu. Es müsse nicht notwendig die 'exakte' sein. Und mancher ihrer Anwürfe bleibt seltsam dunkel: "Das Zeitalter der Aufklärung wird verklärt als Epoche der Vernunft."

Doch tun diese - eher kleineren - Mängel dem Wert der Untersuchung keinen Abbruch. Er besteht nicht zuletzt darin, Stahls herausragende Rolle für die Entwicklung eines Stranges medizinischer Theorie neben und gegen den der Aufklärung initiiert zu haben.

Geyer-Kordesch beschließt ihre Arbeit mit der Feststellung, dass Stahls Frage, ob "der Mensch als seelisch-körperliche Einheit" zu verstehen sei, auch heute noch relevant ist. Daher sei die moderne Medizin, "die sich vom kausal-mechanischen Modell historisch abgeleitet" habe, "neu zu überdenken". Ganz offensichtlich ist sie der Auffassung, dass dies sehr Not tue.

Titelbild

Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung in Preußen im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000.
284 Seiten, 69,50 EUR.
ISBN-10: 3484810130
ISBN-13: 9783484810136

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