Ausblicke von Schönheit und Intensität
W. G. Sebald: "Logis in einem Landhaus
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWarum schreiben? Warum Tag für Tag am Schreibtisch sitzen, während draußen das bunte Leben lockt, und Gedanken und Gefühle verwandeln in tote Buchstaben? Eine "sonderbare Verhaltensstörung" nennt der nach England ausgewanderte W. G. Sebald dieses "immer ein wenig ersatzweise Laster". An dem er als Autor meisterhafter Prosawerke ("Schwindel. Gefühle", "Die Ringe des Saturn") nicht nur selber chronisch leidet. Als Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Norwich University hat er die Beschäftigung damit auch zu seinem Brotberuf gemacht.
"Logis in einem Landhaus" lautet der Titel einer Sammlung von Künstlerporträts, in denen sich nicht nur der Dichter W. G. und der Germanist Max Sebald auf geglückte Weise vereinigen. Die Essays über die in ihren Leben stets abseits stehenden Hebel, Rousseau, Mörike, Keller, Robert Walser und den Maler Jan Peter Tripp stellen in ihren emphatischen Interpretationen und psychologischen Analysen fern jeder Denunziation auch ein geheimes Selbstporträt Sebalds dar.
Sebalds Wahlverwandte ähneln sich in mancherlei Hinsicht. Der mit der Industrialisierung anhebende Prozeß der Zerstörung zeitigt zwar seelische Folgen für alle Mitglieder einer von Konkurrenz dominierten Gesellschaft. Aber Dichter flüchten sich gern in rückwärtsgewandte Utopien, sei es die Phantasie eines ursprünglichen paradiesischen Naturzustandes bei Rousseau, sei es bei Gottfried Keller die Idee eines vorpatriarchalen Matriarchats, personifiziert in der Frau Margret im "Grünen Heinrich"; eine Idee, nach der sich, so Sebald, "im Grunde alle Männer sehnen". Biedermeierliche Versuche, den "eigenen Gartenzaun als Grenze einer sich als Universum verstehenden familiären Welt" zu sehen, hinter der man sich vor der chaotischen, immer schneller werdenden Zeit verstecken kann, deformieren Leben und Werk Mörikes. Aus solchen zum Scheitern verurteilten Wunschphantasien resultieren neue Sehnsüchte: nach Tod, nach Selbstaufgabe und Selbstauflösung. Etwa in Rousseaus Schriften in den Augenblicken vollkommenster Reinheit der Landschaft, wenn der Betrachter sich in Luft aufzulösen beginnt. Bei Keller in der (das Klischee umkehrenden) masochistischen Phantasie des unterm weiblichen Blick erstarrenden männlichen Körpers. Beim Seite um Seite mit mikroskopisch kleiner, unlesbarer Schrift füllenden Robert Walser. Oder beim am Ende seine Notizen zerreißenden und in der Manteltasche vergrabenden Mörike.
Zwei Bände literaturkritischer Essays liegen von Sebald bereits vor, die aber eher als Stoff- und Motivsammlungen für Sebalds eigene literarische Produktion zu bewerten sind. Dagegen handelt es sich bei "Logis in einem Landhaus" um ein den Prosawerken beinah gleichrangiges Werk. Wie jene sind die Essays ganz in der für Sebald typischen, liebenswert langatmigen, eine trügerische Sicherheit suggerierenden Kunstsprache geschrieben. Auch vom Mittel der Bildcollage macht Sebald wieder ausgiebig Gebrauch und erzielt erstaunliche Effekte mit in den Text montierten Fotos, Zeichnungen und Dokumenten. Am anrührendsten wohl die manischen Kritzeleien des unglücklich verliebten Gottfried Keller, der auf blauen Papierbögen "Betty", den Namen seiner unerwiderten Liebe, in zig hundert Variationen und Zeichnungen festhielt und es sogar bis zu Betty-Spiegeln, Betty-Zimmern und fidelnden Betty-Knochengerippen brachte.
Und in allen Lebensläufen findet Sebald wieder jene aus den Prosawerken bekannten mysteriösen Überschneidungen und Korrespondenzen, wie etwa die durch Fotos belegte physiognomische Ähnlichkeit zwischen Robert Walser und Sebalds Großvater. Unweigerlich lassen die spinnennetzartigen Zusammenhänge Erzähler und Leser zu gemeinsamen Gefangenen der Paranoia werden. "Handelt es sich nur um Vexierbilder der Erinnerung, um Selbst- oder Sinnestäuschungen oder um die in das Chaos der menschlichen Beziehungen einprogrammierten, über das Lebendige und Tote gleichermaßen sich erstreckenden Schemata einer uns unbegreiflichen Ordnung?"
Warum also schreiben? Nicht der Autor, der Leser nur kann die "Verhaltensstörung" rechtfertigen. Bücher, so Sebald, können dem Leser Ausblicke eröffnen "von solcher Schönheit und Intensität, wie sie das Leben selber kaum liefern kann." Freilich auch kaum die Gegenwartsliteratur, in der Sebalds Werk mit Ausblicken dieser Art weit abseits steht. Oliver Pfohlmann