Schlaflos in Norwegen

Ein kunstvoller Doppelroman des Theater-Stars Jon Fosse

Von Mathias SchnitzlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathias Schnitzler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rätselhaft: Was er auf die Bühne stellt, hat Erfolg. Dabei sind seine Helden die erfolglosesten und traurigsten Geschöpfe, die man sich vorstellen kann. Während in den TV-Containern Wohngemeinschaft und Liebe gespielt wird, sitzen diese Verlorenen zusammengekauert in Wohnungen, die tatsächlich wie Container anmuten. Zu zweit und doch allein, schlaflos, in einer Atmosphäre der Leere und Hoffnungslosigkeit.

Mit seinen minimalistischen Familiendramen ist Jon Fosse der zur Zeit meistgespielte Theaterautor Europas. Seit Thomas Ostermeiers Salzburger Inszenierung von "Der Name" - die Gemeinschaftsproduktion mit der Schaubühne Berlin machte Fosse schlagartig im deutschsprachigen Raum bekannt - fehlt der Norweger auch bei uns auf keinem Spielplan. Schwach geworden durch die überschäumenden Kritiken, und auf den anhaltenden Boom skandinavischer Literatur hoffend, wagt sich nun der Kindler Verlag mit "Melancholie" an das erzählerische Werk des Shooting-Stars aus dem Land der Fjorde. Das Original war Mitte der neunziger Jahre in Form zweier eigenständiger Romane erschienen, die durch die historische Figur des Malers Lars Hertervig miteinander verbunden waren. Wir bekommen "Melancholia I und II", eine Anspielung auf Dürers berühmte Allegorien der Schwermut, im schwergewichtigen Doppelpack.

Schwergewichtig ist das Stichwort. In der Wahl der Stoffe und der Darstellungsmittel stehen die beiden Romane in der Tradition Thomas Bernhards, dessen Krankheits- und Isolationsgeschichten Aufschluss über die menschliche Existenz schlechthin geben sollen. Wir schreiben das Jahr 1853. Lars Hertervig, ein junger hoffnungsvoller Maler an der Düsseldorfer Kunstakademie, verfällt nach dem Zerbrechen seiner Liebesbeziehung immer mehr der Melancholie und dem Wahn. Von der zwanghaften Angst geplagt, als Künstler zu versagen, landet er in einer norwegischen Heilanstalt. Als Ursache für seine Demenz die von Hassgefühlen auf Frauen getriebene Onanie vermutend, verbietet der behandelnde Arzt Lars die "Selbstberührung" und erteilt ihm zugleich ein Malverbot. Dieser noch dezente Hinweis auf Fosses Poetologie der Selbstbezüglichkeit wird im abschließenden Kapitel des ersten Romans überdeutlich: Der Schriftsteller Vidme plant ein Romanprojekt über den zu Ruhm gelangten Hertervig, nachdem er in der Osloer Nationalgalerie vor einem Bild des Künstlers ein religiöses Erweckungserlebnis hatte. In "Melancholia II", dessen Umfang nur ein Drittel des Vorgängers ausmacht, erinnert sich die Schwester des Malers, geplagt von akuter Inkontinenz, an ihren Bruder und die gemeinsame Jugend in der norwegischen Provinz.

Künstlerthematik, gnostische Motive, Musikalität - in manchem erinnert "Melancholie" an ein Gedicht des leider vergessenen Barockdichters Andreas Tscherning, der 1655 mit "Melancholey Redet selber" das Kreisen der von Schwermut gepeinigten Gedanken in schrecklich-schöne Verse goss: "Ich finde nirgends Ruh/ muß selber mit mir zancken/ Ich sitz/ ich lieg/ ich steh/ ist alles in Gedanken." Auch Fosse lässt den melancholisch-depressiven Geist selbst zu Wort kommen, in einer Textur des Wahnsinns, die kein lineares Erzählen kennt, sondern in ihren wieder und wieder aufgenommenen Leitmotiven musikalischen Geist verrät: "Wieder kommen die schwarzen und weißen Tücher auf mich zu. Ich starre die schwarzen und weißen Tücher an. Ich sehe die schwarzen und weißen Tücher, und ich höre den, der neben mir sitzt, fragen, was ist denn? warum glotzt du so?" Semantische und syntaktische Wiederholungen, das manische Beharren auf das immer Gleiche, die Störung des Bezugs zur Außenwelt: Wie der verwirrte Geist sich das Leben zur Qual macht, der unverstandene Künstler von Gesellschaft und Malerkollegen isoliert wird, soll der Leser förmlich nacherleben. Das Prinzip der Wiederholungsschleife wird zum strukturbildenden Rhythmus des Textes, der die Melancholie sowohl thematisch als auch stilistisch gestaltet.

1917 deutet Sigmund Freud in "Trauer und Melancholie" als Erster die zwanghafte Trübsinnigkeit als eine Krankheit, die wir heute als endogene Depression kennen. Ausgelöst durch einen Objektverlust wie die Trennung von einem geliebten Partner, kommt es zur "Herabsetzung des Selbstgefühls" und der "Aufhebung des Interesses für die Außenwelt". Der psychisch Erkrankte beschäftigt sich ausschließlich mit sich selbst, denn er hat die Klage an die verschwundene Person in eine Selbstanklage verwandelt. So kommt nach Freud die "aufdringliche Mitteilsamkeit" zustande, die jegliches Schamgefühl vermissen lässt und sogar eine gewisse Befriedigung an den eigenen Leiden empfindet. Fosse erkennt Parallelen zur Situation des Kunstschaffenden und übernimmt das psychoanalytische Konzept bis ins Detail. "Ich bin nur eine Hinwendung zu dir", phantasiert Lars im halluzinierten Gespräch mit Helene, "ich gehe. Ich gehe zu dir, ich bin eine Hinwendung zu dir. Ich bin meine Sehnsucht nach dir." Ich-Verarmung, Identifikation mit der Verlorenen, Geschwätzigkeit: Lars trägt alle Symptome des Freud'schen Melancholikers. Zudem bilden die von Freud immer wieder herangezogenen Phänomene der Autoerotik und Defäkation, Leitmotive der beiden Romane, eine treffliche Analogie zu Fosses postmodernem Literaturkonzept. In einem Essay hat er bereits Ende der achtziger Jahre darüber Auskunft gegeben. Schreiben bedeutet demnach notwendig, über den Schreibprozess zu reflektieren. Überspitzt formuliert: Dichtung ist immer auch ein Akt der Selbstbefriedigung und Ausdruck existenzieller Einsamkeit des Menschen.

Eng verknüpft mit der Tätigkeit des Künstlers, der exemplarisch für die conditio humana auf sich zurückgeworfen wird, ist die religiöse Ebene dieses vielschichtigen Romans. Vidmes Ahnung, durch das Schreiben "ein Aufschimmern des Göttlichen" erkannt zu haben, spricht ein gnostisches Motiv an, das sich auch in Hertervigs Bildern manifestiert: Materielle und göttliche Welt werden im strengen Gegensatz zwischen dunkler Erde mit verödender Vegetation und dem lichtdurchfluteten Himmel symbolisiert. Malerei, Musik und Dichtung - nur wenige kommen ihrem gleichsam göttlichen Geheimnis auf die Spur. "Wenn man behaupten will, ich sei religiös", so Fosse, "dann kommt das vom Schreiben. Ich bin kein religiöser Mensch, aber ein religiöser Autor."

Darf man noch soviel von der Kunst erwarten? Adornos Diktum von der Lyrik nach Auschwitz fällt einem ein, wohl wissend um die indirekt zum Ausdruck gebrachte Widersprüchlichkeit, dass die Welt ohne Kunst zwar noch viel barbarischer wäre, aber diese eben auch keine Erlösung mehr sein kann. Zudem werden die unverhohlenen Postmodernismen des Textes gelegentlich etwas überstrapaziert. Kokettierte doch Tscherning schon vor 350 Jahren subtiler mit diesem Sujet. "Indessen bleib ich doch stets eine Poetinn", sinniert die Melancholie nicht ohne Selbstbewunderung, "besinge meinen fall/ und was ich selber bin." Dieser, in seinem doppelten Wortsinn, Fall der geschundenen Seele aber macht die Lektüre Fosses über das Formexperiment und die religiösen Motive hinaus zu einem, wenn auch schwer erkämpften, Gewinn für den Leser.

Wo hört die Leidenschaft auf? Und wo beginnt die Geistesstörung? Fosse verhandelt die Foucault'sche Frage nach der Klassifizierung des Nichtvernünftigen durch die Gesellschaft und schlägt sich auf die Seite der Verlierer, indem er sie zu Wort kommen lässt. Die Literatur, so sagt der Norweger nicht als Erster, braucht die Kranken und Verrückten, denn in ihrer übersteigerten Sensibilität sehen sie, was andere nicht sehen. Der unter Wahnvorstellungen leidende Maler und seine senile Schwester sind keine Schaustücke, die uns beruhigen sollen: Seht her, uns geht es doch besser! Vielmehr schwebt Fosse eine produktive Verstörung vor, ganz im Sinne des Romantikers Novalis: "Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens." Für eine solche Erkenntnis taugt Literatur, verkommt sie nicht zur bloßen Dienstleistung, immer noch ausgezeichnet. In diesem Sinne möge Fosses "Melancholie" viele unerschrockene und tapfere Leser finden.

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Jon Fosse: Melancholie. Roman.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Kindler Verlag, München 2001.
445 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3463403986

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