Ein Liebesroman? Ein Lebensroman!

Leon de Winter über einen wie uns: "Leo Kaplan"

Von Julia DombrowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Dombrowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leon de Winter lädt in seinem Roman "Leo Kaplan" dazu ein, den Titelhelden genau kennen zu lernen: so genau, dass dem Leser nicht einmal die Zahl seiner Zahnplomben vorenthalten wird.

Leo Kaplan handelt nicht nur sympathisch, weiß Gott, er hat eine Menge Fehler. So ist er zum Beispiel ein notorischer Fremdgänger. Er ist nicht sehr wählerisch bei der Wahl seiner Seitensprünge und nutzt auch gern jene Gelegenheiten, die sich ihm durch seine Lehrtätigkeit als Dozent einer Universität bieten.

Dabei hat dieser Mann zu Hause eine Ehefrau, die das Warten allerdings mit der Zeit satt hat: Der Roman wird zu einer Aneinanderreihung von Verlassen und Verlassenwerden.

Eigentlich ist Kaplan Schriftsteller. Das nur zweitrangig zu erwähnen ist legitim, denn er ist ein Geschichtenerzähler, der die Fähigkeit zu schreiben irgendwann verloren hat. Ein Geschichtenerzähler, dessen Schreibtisch zum Alibi wird und zum Mahnmal seiner Unfähigkeit.

Der Roman verknüpft eine große Anzahl von Lebensgeschichten zu einem Gesamtgebilde, langweilig oder banal klingen sie nie. Führt die Handlung in ein Straßencafé, dann wird auch des Kellners Vergangenheit und Charakter Bedeutung beigemessen. Die Herkunft eines rosa Tischtuches führt zur Biographie sämtlicher Vorbesitzer, der Besuch eines Zoos leitet über zur Abstammung eines Gorillas und die Verstrickung seiner Vorfahren in ein dramatisches Eifersuchtsszenario unter Menschen.

Einen Autor mit dem Erzähler einer Geschichte gleichzusetzen, ist bekanntlich eine Todsünde, ihn gar mit dem Protagonisten zu identifizieren - kann es für ein solches Sakrileg noch passende Worte geben? Warum verführt dieser Roman dann bloß immer wieder dazu, ihn autobiographisch auszulegen?

Die Ähnlichkeiten beginnen bescheiden mit den Namen Leon des Autors und Leo der Hauptfigur, beide ihres Zeichens Schriftsteller. Nicht weiter auffallend, nicht wirklich erwähnenswert. Die fast identische Herkunft ist schon prägnanter: Titelheld sowie dessen Schöpfer sind beide in 's-Hertogenbosch als Söhne niederländischer Juden geboren. Dass Leon de Winter einem der Werke Leo Kaplans den Titel "Hoffmanns Hunger" gibt, einen Titel, den einer seiner eigenen Romane trägt, lässt den eisernen Vorsatz langsam bröckeln, niemals Schöpfer und literarische Schöpfung gleichzusetzen, solange ein Werk nicht ausdrücklich als autobiographisch ausgewiesen ist.

Eine Frage, die ich mir schon früher wieder und wieder gestellt habe, ruft dieser Roman in mir wach: Ist es eigentlich möglich, in einem fiktiven literarischen Werk eine völlig neue, vom Autor losgelöste Welt zu erfinden? Oder sind es immer eigene Erfahrungen, Eindrücke, Erlebnisse, die eigene Person, die in einem Roman, einer Geschichte, einer Erzählung mit einem großen Maß an Phantasie zu einer Fiktion aneinander gereiht werden?

Der Roman hat meine Frage nicht beantwortet, aber zwischen den Zeilen scheint Leon de Winter mir augenzwinkernd zuzuwinken. Eine weitere Parallele zwischen Romanfigur und ihrem Schöpfer: eine Ehe des Titelhelden Kaplan scheitert daran, dass die Gattin sich in einem Roman ihres Mannes zu einem grotesken Zerrbild entstellt wiederfindet. Der Autor de Winter selbst verwendet offensichtlich eigene biographische Eckdaten zur Schöpfung seiner Figur.

Diese Überlegungen verlieren in dem Moment an Relevanz, in dem die Machart und die bildhafte Sprache des Buches mich in ihren Bann ziehen. Literatur soll schließlich bewegen, und "Leo Kaplan" bewegt nicht nur den Leser, sondern zeichnet sich zusätzlich durch starke Eigenbewegung aus. Will sagen, es ist ein vitales Buch, die Handlung wird mit einem angenehmen Tempo vorangetrieben, ohne zu hetzen.

An jeder Station der Geschichte wird so lange verweilt wie nötig, um Handeln, Fehlbarkeit, Schmerz und Freude der Beteiligten zu erklären, lange genug, um an den richtigen Stellen ein anschauliches Bild zu gebrauchen. Bilder einer Zirkusmanege werden zu diesem Zwecke wiederholt verwendet. Die Akrobatik am Trapez erklärt die Bedeutung, aber auch die Gefahren des Vertrauens, sie erklärt Ängste, Misstrauen und Beziehungen - vielleicht erklärt sie das Leben als solches.

Wie ich schon eingangs erwähnte: Leo Kaplans Handlungen sind selten nur sympathisch. Menschliches Versagen begleitet sein Leben. Man will ihn wachrütteln, wenn er als junger Mann seine große Liebe verspielt, man will jede der Rückblenden seines Lebens wütend mit den Worten kommentieren: 'Handle doch nicht so menschlich. Wandle dich doch bitte zum schillernden Romanhelden, leb' doch eine Geschichte, die nicht dem Alltag entspringen könnte'.

Aber Leon de Winter hat sich für einen Romanhelden entschieden, dessen Zahnplomben, Versuchungen, Schwachheiten und Nettigkeiten ihn zur Identifikationsfigur machen, so dass man ihm seufzend verzeiht. Vielleicht identifiziert sich ja auch Leon de Winter mit ihm. Das sage ich selbstverständlich unter Vorbehalten, denn Autor und Figur zu vergleichen und identifizieren, ist schließlich nicht zulässig - oder?

Titelbild

Leon de Winter: Leo Kaplan. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
542 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3257062761

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