Wer bin ich? Wozu?

Ljudmilla Ulitzkaja reist in den siebenten Himmel

Von Klaus KastbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Kastberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literatur des heutigen Russland erscheint uns im Westen oft wie ein Herumwühlen in einem Scherbenhaufen. Autoren wie Viktor Pelewin und Vladimir Sorokin machen sich in ihren Büchern über die Reste des Systems her. Die übrig gebliebenen Teile werden an den neu eingeführten Währungseinheiten gemessen, wobei unter dem Strich nurmehr ein Nullwert bleibt - und eben jener schöne Tanz, den die Literatur um ihn herum veranstaltet.

Dass es in Russland auch anders, nämlich viel altmodischer geht, beweist Ljudmilla Ulitzkaja. In den Büchern der 1943 im Ural geborenen und bis heute in Moskau lebenden Autorin sind keine ausgeflippten Textmonteure am Werk, sondern eine Erzählerin, deren literarische Verfahren den Eindruck erwecken, als seien sie von Brüchen unberührt. Hier wird erzählt, wie man es früher tat: aus der Tiefe einer Zeit, die zwar irgendwie vorbei, aber in der gewählten Darstellungsform noch ganz gut aufgehoben ist.

Auch in Ulitzkajas neuestem Buch "Reise in den siebenten Himmel" steckt eine alte Geschichte: Der Gynäkologe Pawel Alexejewitsch Kukotzki entstammt einer traditionsreichen Familie russischer Mediziner, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Den Stalinismus überlebt der Mann, der sich über Jahrzehnte hinweg für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzt, aufgrund eines ausgeprägten Schweijk'schen Talents. Im Mittelpunkt des Buches steht Kukotzkis Ehefrau Jelena. Knapp nach dem Überfall deutscher Truppen auf Russland hat der Arzt sie in einer fast aussichtslosen Operation vor dem Tod gerettet, worauf sie mitsamt ihrer Tochter Tanja zu ihm zog. Jelenas damaliger Ehemann starb fast gleichzeitig an der Front, was bei ihr zu einem tiefsitzenden Schuldkomplex führt, der sie schließlich vollständig verstummen lässt. Wie eine Puppe sitzt sie im Sessel und driftet in ihre Wahnwelt ab.

Die Aufzeichnungen Jelenas aus dieser 'anderen' Welt bilden den mittleren Teil von Ulitzkajas Buch. Auf gut einhundert Seiten wird einer "langen Qual unlösbarer Fragen" nachgegangen, die ("Wo bin ich? Wer bin ich? Wozu?") tatsächlich nur mit einiger Geduld zu ertragen sind. Jelenas Reise in den siebenten Himmel ist eine Weltflucht par excellence, die Autorin dringt aber nicht in die Psyche der Person. Die Beschreibung bleibt äußerlich, im Spiegel von Jelenas Aufzeichnungen erscheint die dem Leben abgerungene Qual wie selbstmitleidiges Pathos.

An den entscheidenden Punkten weiß man als Leser oft nicht zu sagen, ob die Leerformeln der Erzählung vorgeblich Jelenas Kopf entsprungen sind oder von der Autorin direkt einem medizinisch-ethischen Lehrbuch entnommen wurden. Apodiktisch und dabei doch übergenau lokalisiert kommt hier das Glück daher: "Dort, wo die Haut sich berührte, schmolz sie vor Glück. Es war die Erfüllung des Unerreichbaren, dessen, was Liebende treibt, sich wieder und wieder in ehelicher Umarmung zu vereinigen, Jahre, Jahrzehnte, im unbewussten Streben, sich von der körperlichen Abhängigkeit zu lösen, doch die hilflose menschliche Vereinigung endet zwangsläufig mit dem Orgasmus - weiter geht körperliche Nähe nicht. Die Körper selbst setzen eine Grenze."

Dass der Körper eine Grenze hat, die vom Handwerk des Erzählens programmatisch unbehelligt bleibt, schadet Ulitzkajas Buch an anderer Stelle nicht. In der russischen Originalversion hatte der Roman noch "Der Fall Kukotzki" geheißen, und tatsächlich ist dieser Teil der Geschichte gegenüber den Aufzeichnungen Jelenas der bei weitem interessantere. Mit der Lebensgeschichte des Mediziners und seinem sozialen Umfeld wird ein altes Russland präsent: Mit dem Genetiker Goldberg (der seinen Beruf übrigens mit der ursprünglichen Ausbildung der Autorin teilt) lebt die Dissidentenszene auf, in der Haushälterin Wassilissa kommt ein biederer Volksglauben zum Tragen, in den abschließenden Gesprächen Kukotzkis mit seiner Stieftochter Tanja wird dies alles in einen wundersamen Nebel gehüllt - ein klein bisschen sentimentalistisch, so wie die Erinnerungen alter Männer eben sind.

Besser hätte Ulitzkajas Buch zweifellos mit einer besseren deutschen Übersetzung werden können. In der vorliegenden liegen prachtvolle Exemplare von "Bestschülerinnen" mit euphemistischen Phrasen des "ehelich-Eindringens" im Clinch. Mein persönlicher Liebling ist ein anderer Teil des Körpers, auch dieser von außen betrachtet: das Kreuzbein, medizinisch "os sacrum", kurzum: ein "sakraler Knochen".

Titelbild

Ljudmila Ulitzkaja: Reise in den siebenten Himmel. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna- Maria Braungardt.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2001.
510 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3353011838

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