Kafka im Museum
Ein Sammelband zur deutsch-tschechischen Moderne
Von Markus Bauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUm diesem informativen Sammelband gerecht zu werden, muss man seinen Titel ernst nehmen: es geht darin nicht nur um den Kontakt zwischen tschechischen und deutschen Autoren im Zeichen der Moderne, sondern auch um Untersuchungen zu Themen innerhalb der jeweiligen Kultur und Sprache. So bietet Peter Braun eine angenehm lesbare kulturwissenschaftliche Analyse von Gerhart Hauptmanns Christus-Roman "Der Narr in Christo Emanuel Quint" als "Durchlaß- und Auffangform sozialer Zirkulation", nämlich hinsichtlich der Frage nach dem veränderten Status der Religion in der Moderne und der Möglichkeit eines anthropologischen Blicks auf die Messiasgestalt des Christentums. Die für den Diskurs der Moderne zentrale Frage nach ihren medialen Voraussetzungen und Veränderungen wird von Matthias Christen in einem fundierten Vergleich von Döblins Roman "Berlin, Alexanderplatz" (1929) mit Walter Ruttmanns Film "Berlin. Die Symphonie der Großstadt" (1927) berührt. Christen bezieht auch die neu entdeckte Hörspielfassung des Romans und seine Verfilmung in der Intention auf eine "akustische Epik" als Antwort Döblins auf die von ihm beklagte stumme Sprache der Druckschrift mit ein. Der erschriebenen Metropole ist auch Tomás Glanc' intelligente Darstellung der musealisierenden Poetik des russischen Exilanten Vladimir Nabokov in dessen "Stadtführer Berlin" (1925) gewidmet.
Auf indirekte Weise wird die Frage der säkularisierten religiösen Thematik von Filip Charvát bei seiner genauen Lektüre von Richard Weiners "Prázdná židle" ("Der leere Stuhl"; 1919) als ästhetisches Movens in dessen Hinweis auf die eigene Schuldigkeit als "abgründigen Grund des Entsetzens" wieder aufgenommen. Das Scheitern an der künstlerischen Darstellung dieser existenziellen Dimension hat Weiner zu einem langjährigen Verzicht auf die literarische Produktion geführt, den er erst 1927 im Kontakt mit der Gruppe um "Le Grand Jeu" aufgab. Auch in Milan Tvrdíks Beitrag über den chassidischen Mystiker, Psychoanalytiker und Kafka-Freund Jirí Langer, dessen expressionistisch getöntes Gedicht auf Kafkas Tod Tvrdík nach einer aufgefundenen tschechischen Version neu datieren kann, kommt diese Auseinandersetzung mit der religiösen Welt zur Sprache.
Wie sehr die tschechische Avantgarde durch die produktive Rezeption der französischen und italienischen Bewegungen des Kubismus und Futurismus angeregt wurde, zeigt ein materialreicher Überblick Jirí Stromšiks. Mit Ausstrahlungen bis in die Architektur nahmen vor dem Ersten Weltkrieg die Brüder Josef und Karel Capek als Maler und Schriftsteller die frühen Avantgardetendenzen der französischen Malerei auf. Stromšik betont angesichts der reichen Produktion programmatischer Manifeste unterschiedlichster Gruppierungen der tschechischen Vorkriegsavantgarde den zivilisierenden Einfluss der Schriften Walt Whitmans und Emil Verhaerens als einer vitalistischen Färbung, die zu einer engen Verknüpfung mit "sozial-humanistischen Einstellungen" geführt habe. Begann 1920 mit Karel Teiges Begründung des volksnahen Künstlerbundes Devetsil eine explizite Politisierung und Ausrichtung an sozialistischen Ideen, so wich diese der Gefahr der Dogmatisierung und Manipulation durch Rückgriff auf die Spielarten des Dadaismus und den ästhetischen Aktionismus des Futurismus wieder aus. Jaroslav Seifert, Vítezslav Nezval, Teige u. a. begründeten in dieser Tendenz mit dem Poetismus jene spezifisch tschechische Rezeption der europäischen Avantgarden, die in der Literatur, Malerei und Architektur ihre konstruktivistischen Spuren hinterließ. Von ihr führte eine direkte Linie zur Begründung des tschechischen Surrealismus durch Nezval im Jahre 1934.
In einer detaillierten Nahsicht auf die dadaistische Lautdichtung von Hugo Ball, Raoul Hausmann und Kurt Schwitters zeigt ein anregender Beitrag von Klaus Schenk, dass Hausmanns aus dem Lettrismus resultierenden Plakatgedichte in ihrer akustischen Realisierung durch den Poeten seine böhmische Herkunft ins Spiel bringen. Dies stand durchaus in Gegensatz zu Hausmanns Anspruch einer voraussetzungslosen aleatorischen Sprachschöpfung. In Spannung zu Hugo Ball ist für den ausgebildeten Maler Hausmann das Akustische eine mediale Verlagerung von aus dem graphischen Charakter der Schrift resultierenden Effekten, die Döblins spätere Klage über das Verstummen der Lautsprache im Gedruckten bereits entkräften.
Die aus der Romantik stammende Lizenz zur künstlerischen Konzentration auf die bedeutungsfreie Sprache als Material ist im Zentrum der avantgardistischen Ästhetik angesiedelt. Eine genaue Analyse von Karl Kraus' Zeitschrift "Die Fackel" führt Kurt Krolop zu dem Schluss, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg junge Kunsttheoretiker wie Leo Popper, der Prager Max Steiner oder der Musiker Arnold Schönberg eine "absolute Ästhetik" propagierten, die dann in den 20er Jahren ihre marxistische Wendung als "Materialästhetik" erfuhr. Die Eigensprachlichkeit des Materials findet sich in der Nachfolge Kafkas noch bei den 'Postavantgardisten' Reinhard Lettau und Gert Hofmann als Entkleidung der Dinge von ihrer gesellschaftlichen Zweckmässigkeit und Funktionstüchtigkeit (Gregor Reichelt). Diese zweckfreie Dingwelt weist auch auf den sich selbst fremd gewordenen Sprecher hin, dem der Sinn der Wörter wie modrige Pilze im Mund zerfällt. Sprachkritik und -skepsis haben in der k. u. k.-Gesellschaft einen fruchtbaren Boden gefunden - bei Hugo von Hofmannsthal als romantisch-ästhetische Reaktion auf die Verlusterfahrung eines Begriffs vom Ganzen (Alice Stašková), bei dem philosophischen Prager Schriftsteller Fritz Mauthner als Resultat der Vielsprachigkeit seiner Umgebung und einer dem Agnostizismus nahen modernen Haltung (Veronika Jicínská). In diesem Verbrauchtsein der Sprache sieht Schenk auch eine Motivation der dadaistischen Sprachinventionen einer gereinigten, neuen Ausdrucksform.
Den Impulsen eines modernen Lebensgefühls - Schuld, Erschrecken und Skepsis - fügt Gerhart von Graevenitz in einem ob seiner Lakonie und Kohärenz brillanten kulturwissenschaftlichen Beitrag über die Ethnopoetik des vergessenen Prager Exilanten Franz Baermann Steiner das "Deplazierte" als eines der "schmerzhaften Themen der Moderne" hinzu. Entwarf der an Malinowskis "teilnehmender Beobachtung" geschulte Ethnologe und Lyriker Steiner im Londoner Exil eine bis heute weitgehend unbeachtet gebliebene Form "lyrischer Soziologie" als Synthese ethnologischer Forschungen zu Tabu und Fremde sowie eigenen Dichtungen, so hebt v. Graevenitz auf das Motiv des Museums ab, das die Gewaltsamkeit der Exilierung zur Sprache bringt. Erinnerung an Kontexte, die nicht mehr zusammengefügt werden können - eine Sicht, die der russische Exilant Nabokov kaum geteilt haben dürfte, sondern eher ästhetisierend als "Verfahren" verstand.
So ergänzen sich in diesem Band vielfach die scheinbar unverbundenen Zugänge zu einer aspektreichen Perspektive auf die Moderne und ihre tschechischen und deutschen Varianten.
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