Aphoristische Kleinformen des 20. Jahrhunderts

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Idiosynkrasie gegenüber der Systematisierbarkeit von Lebenszusammenhängen, ästhetischer Protest gegen ideologische "Verbindlichkeiten", Sprachskepsis - diese Gattungsmerkmale kennzeichnen die aphoristische Kleinform. Das Buch Friedemann Spickers demonstriert die Leistungsfähigkeit dieser oft als "Sätzchenkunst" oder "Minimalprosa" belächelten Gattung; es versammelt Beiträge zum expressionistischen Aphorismus und zum Aphorismus des Nationalsozialismus. Während die expressionistischen Autoren im Gefolge Nietzsches einen einseitigen Rationalismus des leeren Effekts und der Lebensferne zu überwinden suchen, wollen die Aphoristiker um 1945 der Tendenz zur Individualisierung durch Selbsterhöhung, Einführung von Autoritäten und Anbindung an ein größeres Ganzes entgegenwirken. Eine Studie zu den zwischen Lyrik und Aphoristik verlaufenden Gattungsgrenzen beschließt den Band. Damit ist in Sachen Aphorismusforschung jedoch gerade einmal der Anfang gemacht, denn: "Zumal nach 1945 hat diese Landkarte [d. i. die Geschichte des Aphorismus im 20. Jahrhundert] keine weißen Flecken, sie ist ein weißer Fleck."

F. M.

Titelbild

Friedemann Spicker: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2000.
220 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-10: 3484350792

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch