Beim Zuhören durch ein Leben spaziert

Über Rainer Kunzes "gedichte aus 40 jahren"

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn deine stirn ein flügel streift, ist's einer von ihnen"

Das Beurteilen eines literarischen Werkes ist eigentlich eine relativ einfache Angelegenheit: Der Rezensierende lebt von den Gedanken des Autors oder der Autorin und überfliegt in Riesenschritten vielleicht sogar das Werk eines ganzen Lebens. Gewissermaßen vom hohen Ross herunter - unberührt - werden die Gedanken mit anderen verglichen, in eine Tradition eingeordnet und häufig allzu schnell für allzu leicht befunden. Doch was tun, wenn ein Dichter zur Geschichte des Rezensenten gehört und eine 'objektive' Beurteilung nicht möglich erscheint, weil das zu besprechende Werk in ihm selbst widerhallt? Man hat gewisse Bedenken: Über das, was man liebt, sollte man vielleicht nicht schreiben. - Worüber aber dann?

"keines menschen tod noch wunde, nur erinnerung an eines jeden einziges leben"

Im HörVerlag erschien kürzlich die CD "die großen spaziergänge. gedichte aus 40 Jahren" von Rainer Kunze. Auf dieser CD findet man circa 60 vom Autor ausgewählte und gelesene Gedichte (unter anderem aus "Sensible wege", "zimmerlautstärke" und "Ein tag auf dieser erde"). Der Dichter führt so 45 Minuten lang durch sein eigenes Leben und mehr noch: Kunze führt als Lyriker der individuellen Person durch "eines jeden einziges leben". Themen wie Freude, Liebe und Traurigkeit bestimmen seine Dichtung. Und gerade in dieser Menschlichkeit ist er auch politisch, setzt er sich ein für die Freiheit des Denkens und ergreift Partei für die Verfolgten, so z.B. in seinem "Hymnus auf eine frau beim verhör".

"Doch wer weiß schon, was das heißt: mit dem wort am leben hängen"

Kunzes Biographie liest sich dementsprechend wie ein Stück deutsch-deutscher Geschichte: Er studierte Philosophie und Journalistik in Leipzig, musste aber nach politischen Angriffen 1959 die Universität verlassen, ohne seine Promotion beenden zu können. Nach Zerschlagung des Prager Frühlings gab Kunze sein Parteibuch zurück und daher wurde es für ihn fast unmöglich, noch in der DDR zu veröffentlichen. 1977 schließlich siedelte er auf Druck der SED in die BRD um. Überflüssig, noch sagen zu müssen, dass Kunze fortfuhr, eindringlich gegen die starren Mauern der Ideologien anzuschreiben. Und doch spricht er in seinem ersten Gedichtband nach der Umsiedelung ("auf eigene hoffnung", Erstveröffentlichung 1981) davon, angekommen zu sein: "Auch dies ist mein land", heißt es. Während sein ständiger Wohnsitz im Folgenden nun ein kleiner Ort bei Passau sein wird, beginnt Kunze die "großen spaziergänge" und bereist mit seiner Frau die Länder der Welt.

"Sie kommen, den ruhm zu berühren"

Kunzes Lyrik ist leise, seine Gedichte umfassen meist nicht mehr als ein paar Verse. Bis auf die Satzanfänge sind die Wörter kleingeschrieben, was man gewissermaßen hören kann, während Kunze sacht und sachlich liest. Wenn man eine ungefähre Entwicklung innerhalb des Werkes skizzieren will, dann vielleicht vom unterdrückten, chiffrierenden und oft auch zynischen DDR-Ideologie-Kritiker zum aufmerksam wahrnehmenden und vertraulichen Beobachter der Welt. Nach den langen Jahren des weitgehenden Übergehens der Lyrik Kunzes, die im Osten nicht gedruckt und im Westen nicht gelesen wurde, wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis u. a. Auszeichnungen gewürdigt. In der Laudatio beschreibt Heinrich Böll den Preisträger Kunze wie folgt: "Die Haaresbreite sensibler Wege - die hat ein Deutscher gefunden, ist ein Deutscher gegangen; auf dieser Haaresbreite hat er gelebt und gewohnt, kein Seiltänzer, kein Akrobat, standfest, weil sensibel, abhold den Grobheiten seiner Zeit, von ihnen getroffen und doch nicht schwankend, weil die Sprache ihn hielt, eine Sprache, die nicht vereinfacht, die man Zeile für Zeile sich entfalten lassen muss."

"Bei meinem weißen haar und beim weiß in deinem"

Besonderes Augenmerk verdienen die Gedichte aus dem erst im letzten Jahr erschienenen Band "ein tag auf dieser erde". Kunze ist in die Jahre gekommen, und wenn er nun gelegentlich das Alter selbst thematisiert, scheint es, dass es "wunderbare Jahre" sein müssen und dass die Gegenwart der Vergangenheit in nichts nachsteht. Aus einigen Gedichten spricht eine leise Angst, nach dem Tod der geliebten Person einsam zurückzubleiben. Und ebenso qualvoll erscheint der Gedanke, die Liebe des Lebens im anderen Fall allein zurücklassen zu müssen.

"Und sonst: poesie ist außer wahrheit vor allem poesie"

Die Themen sind vielleicht meditativer geworden, die Form radikaler und ein großer Teil der Metaphern verschlossener. Nie zuvor nahm überdies die Naturbetrachtung eine so zentrale Rolle in einem Gedichtband Kunzes ein. Seine Lyrik hat sich spürbar verändert und da die Beiträge auf der CD nicht chronologisch geordnet sind, hilft das Inhaltsverzeichnis, in dem die Gedichte mit ihren jeweiligen Entstehungsdaten aufgeführt sind, diese Entwicklung nachzuvollziehen. Einziger Schönheitsfehler ist der aufdringliche Jingle zu Beginn, der nach Kirchentagsgitarrenmusik klingt - sowie die Kaufempfehlungen des HörVerlags zum Schluss. Wäre es nicht auch im Sinne Kunzes gewesen, die Gedichte für sich stehen zu lassen, gerade mit den folgenden Versen im Ohr:

"Beim kunstwerk aber verbitten wir uns, dass es es selbst ist Und vielleicht ist es vollkommen"

Titelbild

Rainer Kunze: auf eigene hoffnung & eines jeden einziges leben. Limitierte Sonderausgabe mit einer CD-Hörprobe.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
214 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 359650404X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Rainer Kunze: ein tag auf dieser erde. gedichte.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
128 Seiten, 7,10 EUR.
ISBN-10: 3596149339

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Titelbild

Reiner Kunze: die großen spaziergänge. gedichte aus 40 jahren. 1 CD. Gelesen von Rainer Kunze.
Der Hörverlag, München 2001.
15,30 EUR.
ISBN-10: 3895848557

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