Brücken bauen

Dirk Kurbjuweit über eine Zwillingswerdung

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kennt die Geschichte: Mit zehn, elf oder zwölf Jahren stellt einem das Schicksal einen Neuen in die Klasse. Der Neue wird zum Freund, zum besten Kumpel, zum Bruder. Lange teilt man alles, jeden Gedanken, Träume, heimliche Wünsche. Dann, irgendwann, früher oder später entdeckt man das andere Geschlecht. Der einzige Freund muss zurücktreten, man entfernt sich voneinander, und heute fragt man sich, was der ehemalige Neue von damals denn so macht.

Dirk Kurbjuweit, Jahrgang ´62, ehemaliger "Zeit"-Redakteur, Egon-Erwin-Kisch-Preisträger und zur Zeit "Spiegel"-Autor beschreibt in seiner Novelle "Zweier ohne" den Gang einer solchen Geschichte. Sie beginnt fast normal, setzt sich ungewöhnlich fort und endet tragisch.

Ludwig ist der Neue an der Schule des Erzählers Johann. Er begegnet der peinigenden Vorstellung durch den Rektor vor der Klasse nicht beschämt und gedemütigt, sondern mit Schlagfertigkeit und Selbstsicherheit. Er zieht die Bewunderung seiner zukünftgen Mitschüler auf sich, und bald erwählt er sich aus der Menge Johann als Freund.

Johann darf bei Ludwig übernachten. Schlaflos denkt Johann über Ludwig nach. Über seine Art, seine Eltern, seine Schwester, über Eltern im allgemeinen und über den Tod. Der Tod als größte Angst eines Elfjährigen.

In dieser Nacht stürzt sich eine junge Selbstmörderin in den Garten der Familie. Nur Ludwig und Johann haben den Aufschlag gehört und gehen hinaus. "Niemals zuvor hatte mich etwas so beeindruckt wie jene Geste, mit der er dem Mädchen die Augenlider schloss." Die Art, wie Ludwig der Toten begegnet, bringt Johann zu dem Entschluss, das Freundschaftsangebot von Ludwig anzunehmen: "Ludwig konnte mir gegen die schlimmste meiner Ängste helfen."

Beide wohnen in einem Tal, das von einer mächtigen Autobahnbrücke überspannt wird. Man sagt, dass während des Baues ein Arbeiter in den noch nassen Zement eines Pfeilers fiel und nicht mehr geborgen werden konnte. Ein Mädchen, entführt vom Vater eines Mitschülers, wird in einem Wartungsraum der Brücke gefunden. Selbstmörder springen von der Brücke in Gärten und auf Dächer. Mutproben und Langeweile treiben Ludwig und Johann hinauf. Um und auf und unter der Brücke betoniert sich ihre Freundschaft.

Sie sind mittlerweile 16 und haben die letzten fünf Jahre ausschließlich zu zweit verbracht. Beide schlafen im Frühsommer kurz nacheinander mit demselben Mädchen, sie rudern im Zweier ohne Steuermann, und sie beschließen, Zwillinge zu werden.

Im Zweier ohne Steuermann zu rudern erfordert genaueste Kenntnis desjenigen, der mit im Boot sitzt. Kleinste Abweichungen im Takt können das Boot langsamer machen. Ihre Konkurrenten sind echte Zwillinge. Die ersten vier Regatten gewinnen Ludwig und Johann. Ihr Gelübde trägt Früchte. Bei einem illegalen Motorradausflug können die Polizisten wegen der Ähnlichkeit der beiden den Fahrer nicht mehr bestimmen.

Eines Nachts, als Johann eigentlich nach Hause gehen will, trifft er in der Motorradwerkstatt von Ludwigs Vater auf Vera, Ludwigs Schwester. Schon einmal ist er ihr dort begegnet, als sie weinte, und er sie tröstend in den Arm genommen hat. Jetzt sitzt sie da und streichelt den Kater. Ihre Hände berühren sich. Auf einer Decke, mit der ein Motorrad verhangen war, schlafen sie miteinander. Johann erzählt Ludwig nichts davon, auch nicht von den weiteren anderen Nächten unter der Brücke, die dieser folgen werden.

Ludwig wird stiller. Beide restaurieren ein Motorrad, doch meist sitzt er nur abwesend daneben. Während Johann beginnt sich der Welt zu öffnen igelt sich Ludwig mehr und mehr ein. In einem letzten Akt der Destruktivität will er das Zwillingsgelübde einem endgültigen Test unterziehen.

Dirk Kurbjuweits Erzählungen "Die Einsamkeit der Krokodile" und "Schussangst" wurden bereits verfilmt. Auch "Zweier ohne" wird die Drehbuchadaptoren, sofern eine filmische Umsetzung des Stoffes geplant ist, vor keine großen Schwierigkeiten stellen. Der montagehafte Stil, die Rückblendenstruktur, die Brücke als Schauplatz für spektakuläre Szenen und schließlich das tragische Ende wirken wie fürs Kino gemacht. So wie man den Verlauf dieser Geschichte irgendwie kennt und irgendwie ahnt, kommen einem auch die Vorkommnisse um diese Brücke bekannt vor. Sie scheinen auf Reportagen über selbstmördergeplagte Hausbesitzer oder Kindesentführungen zu basieren. Sie sollen Realität und Aktualität vermitteln, ebenso wie beispielsweise Schilderungen aus dem Schulunterricht, in dem Lehrer Mühe haben, mit den sich ständig verändernden Staatsgrenzen abtrünniger Teilrepubliken mitzuhalten, und Schüler auf veraltete Computertechnik angewiesen sind.

Kurbjuweit versetzt eine zeitlose Geschichte über die Freundschaft und das Erwachsenwerden in unsere Zeit. Er charakterisiert diese Zeit anhand ihrer eigenen Probleme in den verschiedenen Bereichen, psychologisiert seine Protagonisten und beobachtet sie dabei, wie sie mit diesen Umständen umgehen, sie bewältigen oder scheitern.

Titelbild

Dirk Kurbjuweit: Zweier ohne. Novelle.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2001.
133 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3312002893

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