Sisters in Science

Die Inferiorität männlicher Wissenschaft

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Feministische Perspektiven verwandeln Wissenschaft". Diese These zu belegen, die auch eine Hoffnung und eine Absicht ausdrückt, treten die Autorinnen des Sammelbandes "Erkenntnisprojekt Geschlecht" an. Entsprechend der historischen und logischen Entwicklung feministischer Theorie und Wissenschaftskritik gliedert sich der Band in drei Teile. Zunächst wird Androzentrismuskritik und Wissenschaftsdekonstruktion am Beispiel einzelner wissenschaftlicher Disziplinen geübt. Dabei werden der dekonstruktivistischen Methode gemäß "die Standards der Wissenschaft gegen ihre eigenen Konstrukteure" gewandt, nämlich "sachlich, logisch, vorurteilsfrei in Fragestellung, Methodenumgang und Interpretation" zu sein. Man ist geneigt, Marx paraphrasierend zu sagen, die Wissenschaften würden nach ihrer eigenen Melodie zum Tanzen gebracht. In einem zweiten Teil werden sie sodann auf feministische Innovationen und Transformationen hin durchleuchtet. Das Anliegen, "den Prozeß der Wissensherstellung zu verändern", erfordere die Herausbildung neuer Konzepte ebenso wie die Formulierung innovativer Fragestellungen und die Entwicklung anderer Methoden. Typisch für weiterführende Kritik durch feministische Forschungsansätze seien die Präferenz für qualitative Verfahren und die Berücksichtigung des historischen Kontextes sowohl des Forschungsgegenstandes wie auch des forschenden Subjektes. Zudem wird insbesondere das "interdisziplinäres Vorgehen" feministischer Forschung hervorgehoben. Doch wagt leider keine der Autorinnen den inter- oder transdisziplinären Zikadensprung wirklich, bei dem man ja bekanntlich auch auf dem Rücken landen kann. Schließlich werden in einem letzten Teil Implementation und Integration feministischer Theorie beispielhaft vorgestellt.

Nicht alle Wissenschaften zeigen sich jedoch für feministische Theorien oder gender studies gleichermaßen offen. Die Frage aber, woran etwa die "völlige Unzugänglichkeit" der allermeisten 'harten' Naturwissenschaften liegt - an der Sache, also den Naturwissenschaften selbst, oder an den Naturwissenschaftlern, beantwortet der Band bedauerlicherweise allenfalls indirekt und andeutungsweise. Zudem besteht ein Desiderat im Fehlen eines Beitrags zur Literaturwissenschaft. Das erstaunt um so mehr, als in ihr wie in keiner zweiten Wissenschaft dem Erkenntnisprojekt Geschlecht Rechnung getragen wird und gender geradezu zu einer der fundamentalen Analysekategorien avanciert ist. Trotz dieser klaffenden Lücke ist das Spektrum der behandelten (Kultur- und Geistes-)Wissenschaften breit gefächert. Leider muß konstatiert werden, daß das Erkenntnisprojekt Geschlecht nicht in allen gleichermaßen fortgeschritten ist. So muß Birgit Riglaf für die Politikwissenschaft feststellen, daß "nach wie vor keine entwickelte feministische Staatstheorie existiert". Kerstin Palm dechiffriert am Beispiel der Rezeption feministischer Theorie in der Biologie die "gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse" als "wissenschaftsgeschichtlichen Subtext" der "kognitiven und ontologischen Grundkonzepte der Naturwissenschaften" und blamiert so "wissenschaftliche Objektivität als die Verabsolutierung einer bestimmten männlich vereinnahmten Subjektivität".

Christiane Schmerl zieht in einem ihrer beiden Aufsätze eine eher düstere Zwischenbilanz des Verhältnisses von "Feminismus und deutsche[r] Psychologie". Während im englischen Sprachraum zwischen 1993 und 1996 ca. 400 neue Bücher zur feministischen Psychologie und "Psychology of Women" erschienen sind, sehen sich feministische Forscherinnen hierzulande genötigt, auf "Nachbardisziplinen wie Soziologie, Pädagogik, Linguistik" auszuweichen. Ihr ernüchterndes Resümee lautet: daß "die feministische Psychologie in Deutschland, wenn überhaupt, weithin außerhalb der Hochschulpsychologie" stattfinde. Wie sehr allerdings gerade dieser immer noch überaus androzentrischen Wissenschaft eine feministische (De-)Konstruktion nottut, zeigt die Autorin beispielhaft in einem zweiten Beitrag über "Weibliche Aggression aus psychologisch-feministischer Sicht". Mit Hilfe der Forschungsergebnisse von Anne Campell zeigt sie, daß es sich bei der scheinbaren Defizienz weiblichen 'weniger aggressiven' Verhaltens um eine "aktive menschliche Fähigkeit zu einem Mehr an konstruktiven und alternativen Verhaltensweisen" handelt. Schmerl versäumt allerdings nicht zu unterstreichen, "daß Frauen nicht qua Natur das sanftmütigere, weniger gewalttätige Geschlecht" seien.

Bettina Dausien unternimmt in einem Beitrag zur Soziologie die Verabschiedung des einst kritisch verstandenen Theorems der "geschlechtsspezifischen Sozialisation". Sie schlägt vor, die seinerzeit mit diesem Konzept intendierte These der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht beizubehalten, sie jedoch in ein anderes Forschungskonzept zu überführen, nämlich das des situativen "doing gender", das aber erst in Verknüpfung mit der "lebensgeschichtlichen Dimension des Geschlecht-Werdens" weiterführend sei. Lapidar und mit berechtigter Zufriedenheit stellt Dausien fest, daß sowohl die "'Erfindung' des Konzepts [geschlechtsspezifischer Sozialisation] als auch seine mögliche Verabschiedung aus dem feministischen Forschungskontext" hervorgegangen seien.

Natürlich dürfen in einem solchen Band auch Gilligans Kritik an Kohlberg und die daran anschließende Diskussion um die zwei Moralen, hier Gerechtigkeitsmoral, da Fürsorgeethik, nicht fehlen. Eigentlich mag man das kaum mehr lesen, zu altbekannt ist es schon. Schnell fühlt man sich darum gelangweilt, wenn Martina Herrmann all das noch mal dahererzählt, und beginnt die Seiten schneller umzuschlagen. Doch plötzlich hält man inne und blättert zurück. Denn beinahe wäre dem Leser in seiner Arroganz die "feministische Pointe" Martina Herrmanns entgangen: "Die Fürsorgemoral führt [...] als Teil des Geschlechterstereotyps [...] zu struktureller Unterdrückung." Man liest noch einmal genauer und stellt fest, daß die Autorin ihre These originell und nachvollziehbar begründet. Zunächst weist sie nach, daß ein Verhältnis, in dem ein Partner fürsorglich, der andere gerecht ist, zu Ungleichheit tendiert. Vermittelt durch die geschlechterstereotypische ethische Erwartungshaltung an Männer, gerecht zu sein, und an Frauen, fürsorglich, und den entsprechenden Selbstkonzeptionen führt das zu einer strukturellen Ungleichheit im Verhältnis der Vertreter der Geschlechter, und zwar "ohne das einer sich unmoralisch" verhielte. Das ist der eigentlich Clou ihres Theorems, den sie überzeugend zu begründen versteht. Die von der Autorin ins Auge gefaßte Konsequenz: "Fürsorgemoral nur unter Gleichgesinnten [...]. Wer an seiner Gerechtigkeitsmoral festhält, sollte auch so behandelt werden", ist jedoch, wie sie auch selbst erkennt, nicht ganz unproblematisch.

Sind auch die einzelnen Beiträge von unterschiedlichen theoretischen Ansprüchen (bei einigen handelt es sich um eher empirisch orientierte Untersuchungen) und mag man auch nicht jeder These zustimmen, so handelt es sich doch um ein Buch, das nicht nur einen Überblick über den Forschungsstand des Erkenntnisprojekts Geschlecht in einer Reihe von Fachwissenschaften bietet, sondern selbst dazu beiträgt, Wissenschaft zu verwandeln.

Bettina Dausien/Martina Herrmann/Mechthild Oechsle/Christiane Schmerl/Marlene Stein-Hilbers (Hg.): Erkenntnisprojekt Geschlecht. Feministische Perspektiven verwandeln die Wissenschaft.

Titelbild

Bettina Dausien / Martina Herrmann / Mechtild Oechsle (Hg.): Erkenntnisprojekt Geschlecht. Feministische Perspektiven verwandeln Wissenschaft.
Verlag Leske und Budrich, Opladen 1999.
280 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3810022225

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