"Das Skandalon aufrechterhalten"

Knut Ebelings philosophische Lektüre von Batailles "Madame Edwarda"

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum sind heute - und gerade heute - die besten Leser Batailles jene, denen die Hegelsche Evidenz zu tragen so leicht fällt? So leicht, daß [...] eine bloße Berufung auf Nietzsches oder Marx' Komplizenschaft [...] genügt, ihren Bann zu brechen!

Jacques Derrida, "Von der beschränkten zur allgemeinen Ökonomie", 1967

Der Philosoph, Kunstkritiker und Träger des Carl-Einstein-Preises, Knut Ebeling, Jahrgang 1970, schlägt in seiner Untersuchung von Georges Batailles "Madame Edwarda" ungewöhnliche Wege ein: Am französischen Denken der Moderne und Nachmoderne geschult, hält sich der Autor zurück, die Anmaßung einer Interpretation zu riskieren. Statt dessen liegen uns in Form des fast fünfhundert Seiten starken Buch aus dem für seine Verdienste um die Verbreitung und Auseinandersetzung mit der Französischen Philosophie bekannten Wiener Passagen-Verlag zwei "Lektüren" zu einer der kürzesten Erzählungen Batailles vor.

Die Lektüren verlaufen zu großen Teilen 'parallel'. Und dies zunächst vor allem hinsichtlich des Textarrangements: Während die linke und engere Spalte in minutiöser "Lektüre" jeden Satzteil von "Madame Edwarda" zunächst - im Original wie in der Übertragung - präsentiert und sodann seziert, ist die rechte Spalte der Platz, an welchem Ebeling dem Leser theoretische Reflexionen zu Batailles Werk bietet. Die Absicht des Autors verfolgt durch die triviale, aber in der Darbietungsform eines philosophischen Buches nach wie vor ungewöhnlichen 'Spaltung' des Textes das Projekt, ein Leseapriori zu erzeugen, in das jede Relektüre Batailles gezwungen wird, die durch Ebelings Werk hindurchgeht. Es geht darum, die nicht nur im Falle Batailles unzulängliche Trennung von theoretischem und literarischem Werk auf der Ebene der Form derart stark zu markieren, dass die Suche nach dem Inhalt zur permanenten Synthese zweier weiterer Felder gerät: Während eine der Form nach notwendig lineare 'Interpretation' immer große Mühen haben wird, die Vermittlung der scheinbar aliterarischen Theorie mit der scheinbar theoriefreien Literatur im Leser zu erreichen, ist die mithin brutale Separation eine raffinierte Erzeugung des Anlasses, jene Verbindung seitens dieses Lesers selbst herzustellen - oder in den Worten von Ebeling: es geht um den "Ausdruck der Irreduzibilität eines Textes".

Ganz so einfach ist es beim näheren Hinsehen jedoch nicht: Tatsächlich soll die Spaltung auch die Aufhebung (deren Moment der "Suspendierung" für Ebeling eine "vielleicht perverse Leistung" darstellt), die Gleichschaltung von Literatur und Theorie, verhindern, respektive eine Domäne schaffen, die von Metaliteraten und freien Philosophen bevölkert werden kann. Der Philosoph steht vor der Spalte Edwardas und sieht in sie hinein, durch sie hindurch, über sie hinweg. Er sieht sie nicht. Der Literat dagegen dringt in ihre Spalte ein und bleibt in ihr stecken, denn er erkennt sie nicht. Im Rahmen eines bestimmten Diskurses würde man davon sprechen, dass nur Frau den Körper lesen kann, der Denker Frau werden muss, um ihresgleichen berühren zu können.

Doch er bleibt Mann - und die Leser sind ihm dafür zum Dank verpflichtet: Einerseits können wir ganz wie der Beobachter hinter dem Glasfenster für bares Geld an dem lust- und leidvollen Spiel des Protagonisten der Bataillschen Erzählung teilhaben, seinen Kämpfen mit Geschlecht, Sex, Bedeutung und Religion. Andererseits können wir uns im Imaginären zurücklehnen und über die weitere Spaltung des Kosmos "Bataille" informieren, der sich zeit seines theoretischen Lebens im Kampf mit den Positionen Hegels und Nietzsches befand, also mit der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Philosophie als Ort und Hort von Wahrheit schlechthin. Dass Bataille sich gerade diese beiden Extremisten des Denkens wählte, mag von Ebeling teilweise als Geschick dargestellt werden, es war mehr noch eine historische Notwendigkeit, oder sagen wir besser: Aufgabe, es eines Tages im zwanzigsten Jahrhundert zu tun. Insofern war es für Derrida ein leichtes, das Projekt der Dekonstruktion bereits bei Bataille eingelöst zu sehen, und war es für Habermas eine Selbstverständlichkeit, sich mit Bataille zu beschäftigen, als er die Verbündeten zur vermeintlich letzten Schlacht zwischen Vernunft und Unvernunft sammelte.

Was ist der 'Inhalt' der Erzählung Batailles, die 1941 erstmals als Privatdruck in einer Auflage von nur fünfzig Stück unter dem Pseudonym Pierre Angélique veröffentlicht wurde? Auf gut zehn Seiten drängt sich eine aus heutiger Sicht zwar zunächst nicht weiter spektakuläre Geschichte, die aber - so das Überwältigende - in fast jedem Satz eine neue Handlung, eine neue Intensität beschreibt: Der Protagonist treibt auf Suche nach Befriedigung seiner schier endlosen Geilheit durch die Dämmerung der Pariser Straßen. Intoxikativer Rausch, Voyeurismus und damit einhergehende Onanie bilden die Koordinaten seiner Wanderung, die ihn rasch ins Bordell führt. Hier erfährt der nächtliche Vagabund das Gefühl der Erhebung in Gott, wobei ihn zugleich die Angst beschleicht, er würde nun endgültig von der Erfüllung seiner Sehnsüchte abgetrennt werden. In dieser Situation konfrontiert ihn die Hure Edwarda mit der zwischen ihren Beinen klaffenden Scheide, und während er hineinglotzt, beantwortet sie sein überraschtes Unverständnis mit der Aussage, sie sei "Gott". Dieser inneren Obszönität schließt sich im Text eine äußere an: Der Freier muss auf ihr Geheiß hin vor den anderen Besuchern die "Falle" mit seinen Lippen berühren. - Die Lokalität schließt und er folgt ihr auf das Zimmer.

Der eigentliche Geschlechtsakt - der die Erzählung wie ein Goldener Schnitt kurz nach dem ersten Drittel teilt - ist durch eine lange Reihe von Auslassungspunkten gekennzeichnet. Danach gehen beide nun gemeinsam auf die Straße, Madame Edwarda nur mit einem Mantel, Strümpfen und einer Maske bekleidet. Der zweite nächtliche Gang gleicht wieder einem Taumel, der nun zwischen beiden in Form von Abstoßung und Anziehung, Todeswunsch und sexueller Erregung stattfindet. Schließlich halten Sie ein Taxi an. Die Hure verführt den Fahrer, während das Ich des Textes dem Treiben auf der Rückbank in unmittelbarer Nähe beiwohnt, um Edwarda schließlich in seinen Armen zu empfangen. Alle drei sinken in einen Schlaf, in dem der Erzähler die Zeit erhält, das Geschehene bis zum Moment des Erwachens zu kommentieren.

Soweit die Geschichte. Man lasse sich jedoch nicht täuschen: Wie Ebeling vortrefflich zeigt, schichten sich auf den wenigen Seiten Text nicht nur Geschehen und Interpretation sowie die Ebenen der Zeichen und der Übertragung ineinander, sondern kondensieren auch die philosophischen Aussagen Batailles unter diesem Brennglas. Vor bzw. hinter dem Text liegt zudem - sehr aufschlussreich für Ebelings gesamte Deutung - das Problem der Übertragung und Rückübertragung zwischen Text und Übersetzung. Wobei gerade die deutsche Übersetzung des Textes durch Marion Luckow nicht bei der französischen Designation des weiblichen Geschlechts als "guennilles" bleibt - was schlicht "Schlampe" meint - sondern eine Weitung des Interpretationsraumes durch das zum Begriff werdenden Wort "Falle" erwirkt.

Ein schöneres Wuchern des Textes ließe sich kaum vorstellen, spiegelt sich doch hierin abermals das von Ebeling durch das Design seiner Auslegung permanent gegenwärtig gehaltene Klaffen von "Bataille". Der Träger dieses Namens hatte unter Wahrung der Anonymität Angéliques 1956 selbst ein Vorwort zur dritten und erstmalig offiziellen Publikation von "Madame Edward" verfasst. Der Konservator der Bibliothek von Orléans äußert, nähert und distanziert sich in einem Zuge vom blasphemischen Produkt des falschen Engels. Er schreibt einen professionellen wie triumphalen Kommentar zum Hydeschen Aspekt seines inkogniten Alter Egos.

Mit dem Blick, den wir durch die vorliegende Analyse erlangen, sind es trotz aller Ausführlichkeit der Lektüren Batailles durch Ebeling somit weniger die Topoi, die angeschnitten werden: Glück, Lust, Qual, Extase, Tod usw.; es ist die Struktur, in der sie eingebettet sind und zwischen der vorgeblich fixen Existenz des Intellektuellen und der schwindsüchtigen Extrovertiertheit Don Juans - also zwischen reflektierend-reflektiertem Selbst und infantil-erotischem Ich, das sich (noch) nicht kennt. Was Levi-Strauss in der Ferne zu entdecken glaubte, hatte Bataille in der Unruhe des eigenen Stammes bereits entblößt. Was Artaud nur heillos und tragisch zelebrierte, vor dem hatte Bataille sich schon geschützt. Vielleicht ist dies das mächtigste Erbe, das Nietzsche diesem Leser hinterlassen hat. Es ermöglichte Bataille, seine Leser in den Vollzug zu schicken, der sie die Allmacht des Hegelschen Systems erleiden und obendrein deren konstitutives Verbrechen - die Bemächtigung der Sinnlichkeit durch das Bewusstsein - sühnen lässt.

Ein Topos wird von Ebeling daher gesondert hervorgehoben: die Erotik. Sie versteht er mit Bataille als eine Radikalisierung des ästhetischen Diskurses hinsichtlich der Sinnlichkeit selbst. Am Grade Null der Wahrnehmung, der Haut, des Sexus und der Ausflüsse wird die Wahrnehmung zur absoluten Fakultät. Sie verdrängt das Bewusstsein nicht, sie ist seine Wahrheit, die seine Theoretiker spätestens von Baumgarten, wenn nicht gar schon von Aristoteles an leugneten. Mit Bataille, so macht uns Ebeling aufmerksam, entdecken wir nicht den Ausschluss der außermoralischen Lüge in der Episteme der Neuzeit, sondern die jeder abendländischen Wissenskonfiguration vorausliegende Betäubung der Sinnlichkeit. Bataille ist dadurch nicht nur unmittelbar Theoretiker einer zutiefst heterogenen Disziplin der Ästhetik, sondern zugleich ihr schärfster Kritiker: Ästhetik ohne Gott.

Der Geschlechtsverkehr mit der Hure Edwarda befindet sich außerhalb der Erzählung Batailles. (An seine Stelle tritt im Text, wie gesagt, das Schweigen der Zeichen. - Die scheinbar zufällige, aber höchst präzise herbeigeführte Synchronizität der beiden Kommentare Ebelings lassen an jener Stelle einen von insgesamt zwei Exkursen hervortreten, welche die Zwiespaltigkeit der Untersuchung unterbrechen.) Vielleicht ist der Beischlaf selbstverständlich, vielleicht ist er uninteressant. Der Betrug und Abfall von Gott passiert dagegen schon früher, im Text. Im Gegensatz zum Eindringen in die weibliche Falle - wodurch der Familialismus zumindest somatisch gesichert wäre -, ist das Angesichtig-werden der Vulva und die letztliche Berührung zwischen den vier Lippen die Obszönität an sich. Sie würde in Hegels System keinen Platz finden, ebenso wie Gott keinen Platz im System hat. Deshalb ist die rosafarbene Wunde im Fleisch "Gott", so wie das System "Gott" ist. - Aber: Hegels System ist im Ganzen (und nur im Ganzen) Gott, Edwardas Falle dagegen ist ganz Gott im Ausschlussraum. Der Vorhof des Bordells, in dem sich eine sonderbare Öffentlichkeit jenseits politischer Interessen ohne Absprachen begegnet, stellt die Inversion des öffentlich-moralischen Raumes dar, der von Hegel nicht geduldet werden kann, der nicht einmal existiert. - Doch hier entbirgt sich Gott.

"Der Philosoph", so zitiert Ebeling affirmativ Derridas bekanntes Diktum, welches seiner Untersuchung als Motto dient, "ist für den Text Batailles blind, weil er nur durch diese unzerstörbare Begierde, die Selbstgewißheit und die Sicherheit des Begriffs [...] aufrechtzuerhalten, Philosoph ist. Für ihn ist der Text Batailles eine Falle, ein Skandalon im wahren Sinne des Wortes." - Wie in jeder Schicht und an jeder Stelle spannt sich der Überblick über die gesamte Problematik auf in dem nicht weiter konzeptualisierbaren 'Zwischen' der gottlosen, aber zugleich heiligen Existenz, das für die Vergegenwärtigung des Menschen der letzten hundertfünfzig Jahre der möglicherweise einzige Nenner aller philosophischen wie anthropologischen Lager war. Das Schließen dieser Wunde würde genau den Abschluss und die Abkehr vom Subjekt bedeuten, das im nachhaltigen Beteuern seiner Lückenhaftigkeit Gewissheit findet. Es bedarf des Skandalons, eben genau jener Vorrichtung, welche die Falle für das Opfer offen hält.

Die Arbeit von Knut Ebeling ist keine herkömmliche Einführung in das Denken Batailles - und doch wird auch der, welcher der Texte Batailles unkundig ist, herangeführt an die Bewegung seines Denkens. Im besten Sinne handelt es sich nicht um eine Biographie eines Denkers, wohl aber um die eines Denkens. Durch die thematische Verknüpfung liegt ein nahezu organisches Geflecht der relevanten Schriften und Topoi vor, die didaktisch vortrefflich aus der Fragestellung nur eines kurzen Textes heraus vorgestellt werden, dessen Gewicht damit für das Gesamtwerk um so schwerer wiegt. Ein Vorbild für jede ernsthafte philosophische Lektüre, die nicht eine bloße Reihung bio-bibliographischer Daten sein will. Auch und gerade wenn die übliche, schulmeisterlich maßregelnde Kritik am Autor ausgespart wird. - ein Vorbild auch für den immer noch schwierigen Umgang mit Texten postmoderner Prägung.

Zuletzt wird man beim Lesen unnachgiebig von dem Gefühl beschlichen, dass bislang weder die jüngsten neo-pragmatistischen Anverwandlungen Hegels im angelsächsischen noch die Vertreter seiner institutionell bedingten Renaissance im deutsche Sprachraum es vermochten, eine nur annähernd gelungene Wiederbelebung der Hegelschen Problematik zu erzeugen, die Hegel derart behutsam modernisiert, ihn aber dennoch bis an seine Grenze (Nietzsche) bringt. Der ungeduldige Leser mag gerade dieses mimetische Vorgehen der "Lektüren" als Folter erfahren. - Es lohnt sich, (sich) Bataille zu öffnen. Umfang wie Qualität des Buches von Ebeling rechtfertigen seinen Preis.

Titelbild

Knut Ebeling: Die Falle. Zwei Lektüren zu George Batailles "Madame Edwarda".
Passagen Verlag, Wien 2000.
478 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3851654293

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