Zur Ästhetik literarischer Texte

Gérard Genettes literaturtheoretische Studie "Fiktion und Diktion"

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette stellt in "Fiktion und Diktion" einmal mehr die Frage nach der Literarität, das heißt nach dem ästhetischen Aspekt der Literatur. "Was macht aus einem oralen oder geschriebenen Text ein Kunstwerk?" Der im Wilhelm Fink Verlag in der Reihe "Bild und Text" bereits 1992 in einer excellenten Übersetzung von Heinz Jatho erschienene Band umfasst vier literaturtheoretische Studien, die - grob gesagt - versuchen, das Verhältnis fiktionaler und nicht-fiktionaler ("faktualer") Texte im Rahmen ästhetischer Theoriebildung zu bestimmen. Die zweite Studie befasst sich mit dem Status narrativ-fiktionaler Aussagen als illokutionäre Sprechakte. Genette steht in der strukturalistischen Tradition von Jakobson bis Todorov, wenn er sich darum bemüht, die Merkmale anzugeben, die imstande sind, literarische Kunst in ihrer Vielfalt zu charakterisieren und von anderen Formen sprachlicher Praxis zu unterscheiden.

Im ersten Aufsatz "Fiktion und Diktion", der ein "Juwel" literaturwissenschaftlicher Prosa darstellt, entwickelt Genette seine ästhetischen Grundbegriffe auf eine klare und elegante Art und Weise. Genette stellt zunächst der sogenannten konstitutivistischen Poetik, die die Frage nach der Literarität von Literatur essentialistisch versteht ("Welches sind die Texte, die Werke sind?") die sogenannte konditionalistische Poetik gegenüber. Diese interpretiert die Frage nach der Literarität wesentlich anders: "Unter welchen Bedingungen oder Umständen kann ein Text ohne innere Modifikation ein Werk werden?" Diese auf den ersten Blick zwar verständliche, aber wenig anschauliche Differenzierung wird in der Folge untersucht und offenbart dabei ihr explosives Potential. Genette stellt heraus, dass im Übergang zu einer konditionalistischen Poetik der Bereich nicht-fiktionalistischer Prosaliteratur (Tagebücher, Geschichtsschreibung, Satire, didaktische Stücke, Aphorismen, (Auto-) Biographien etc.) unter ästhetischen Gesichtspunkten angemessener betrachtet werden kann. Literarische Kunstobjekte im weiteren Sinne sind nicht auf kanonisierte Kunstwerke reduzierbar: Kunstwerke sind spezifische Kunstobjekte, die einen intentional ästhetischen bzw. artistischen Charakter aufweisen. Dieser kann aber nicht als notwendige Bedingung von Literarität schlechthin fungieren.

Die Unterscheidung der zwei Grundformen von Literarität wird von Genette im Hinblick auf diverse Kriterien und Modi ausgearbeitet und konkretisiert. In der Geschichte der Poetik entziffert er zwei Kriterien für die konstitutive Literarität: das klassische, seit Aristoteles vorherrschende thematische Kriterium der Fiktionalität und das eher moderne, seit der deutschen Romantik verstärkt in den Blick tretende formalistische (genauer: rhematische) Kriterium der ästhetischen Funktion von Sprache als solcher. Hier lässt sich die poetische Sprache von der nicht-poetischen durch formale Eigenschaften des literarischen Sprachgebrauchs unterscheiden. Nicht länger erscheint die Sprache als "transparentes Kommunikationsmittel" von Bedeutungen, vielmehr avanciert sie selbst zum "autonomen" ästhetischen Material. Genette beruft sich vor allem auf Mallarmé und Valéry, die bereits um die Jahrhundertwende dahin tendieren, die formalistische Betrachtungsweise nicht nur auf die Poesie im engeren Sinne (lyrische Dichtung), sondern auf die "Diktion" (nicht-fiktionale Poesie und Prosa) überhaupt anzuwenden.

Der Nachteil der thematischen Definition konstitutiver Literarität besteht darin, einen großen Bereich der nicht-fiktionalen Poesie auszuschließen. Genette führt aus, dass es mit dem Monopol der Fiktion in der Literatur peu à peu zu Ende geht, sobald das Lyrische - seit der italienischen und spanischen Renaissance - in das Gebiet der Poetik einbezogen wird. "[D]ie Geschichte der [konstitutivistischen] Poetik kann als eine langsame und mühsame Anstrengung beschrieben werden, vom thematischen zum formalen Kriterium überzugehen." Allerdings geht es Genette nicht darum, die thematische Definition des ästhetischen Charakters literarischer Texte in der formalistischen aufzuheben: "Literarität ist ein plurales Faktum". Diese Pluralität, die die relative Legitimität spezifischer poetischer Diskurse gewährleistet, steht dem universalistischen Anspruch der konstitutivistischen Poetiken entgegen, der verlangt, das gesamte Feld der Literarität uneingeschränkt zu erfassen. Allerdings entzieht sich die nicht-fiktionale Prosaliteratur dem Zugriff konstitutivistischer Poetik insgesamt: sowohl der thematisch als auch der formal ausgerichteten. Daraus ergibt sich für Genette die Notwendigkeit, auf die konditionalistische Poetik zurückzugreifen, die keine "geschlossene Poetik" mit einem festen Kanon präsentiert.

"Der Irrtum aller Poetiken seit Aristoteles hat wohl darin bestanden, den Sektor der literarischen Kunst, auf den sich jeweils ihr Kriterium bezog und für den sie jeweils konzipiert waren, als ,Literatur par excellance', sogar als die einzige ,dieses Namens würdige' Literatur zu hypostasieren." Mit dem Entwurf einer konditionalistischen Poetik, die ausdrücklich den konstitutivistisch verfassten Ästhetiken zur Seite gestellt wird, begegnet Genette in letzter Konsequenz dem auf impliziten (philosophisch vorherbestimmten) Privilegien beruhenden dogmatisch-doktrinären Kunstbegriff. Im Rekurs auf das freie Kantische Geschmacksurteil und seine Orientierung an der formalen Struktur der sprachlichen Gestaltung ersetzt diese nicht-doktrinäre Poetik die Frage nach dem Wesen der Kunst (hier: der Literarität) durch die Frage "Wann ist es Literatur?" Demzufolge kommt es auf die Bestimmung der ästhetischen Funktion an, aus zunächst nicht als ästhetisch geltenden Texten Kunstgegenstände werden zu lassen - ohne sie dabei in ihrem Textbestand zu modifizieren. Vielleicht hat sich Genette an diesem Punkt von der dekonstruktiven Vorstellung der Kontextvariabilität sogenannter Grapheme inspirieren lassen. Jedenfalls gelingt es ihm, der (vor allem im letzten Jahrhundert zu beobachtenden) grassierenden Ausweitung des Gebiets der konditionalen Literarität Rechnung zu tragen. Beispielsweise unterläuft er im dritten Kapitel über die narratologischen Differenzen der "Genres" fiktionaler und faktualer Erzählungen ausdrücklich die ästhetische Fixierung auf die Fiktionsliteratur, welcher die anderen Literaritätsbereiche untergeordnet werden, indem er das Verhältnis der nicht-hierarchisch aufeinander bezogenen narrativen Diskurstypen untersucht. Mit Genette erweisen sich die endlosen Gattungsdefinitionen zwar nicht als überholt, sie werden aber als teils unreflektierte hermeneutische Vorannahmen in einen größeren Zusammenhang gestellt.

Titelbild

Gérard Genette: Fiktion und Diktion.
Übersetzt aus dem Französischen von Heinz Jatho.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
151 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3770527712

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