Körper als Zeichen
Dokumente über Goethes äußere Erscheinung
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Was in der Seele vorgeht, hat seinen Ausdruck im Angesicht“, lautet ein Grundsatz von Johann Caspar Lavaters Physiognomik. Aus einem um 1783 gestochenen Schattenriß schloß Lavater auf die Weisheit, Vitalität und Entschlossenheit Goethes. Daß aus der äußeren Erscheinung eines Menschen Rückschlüsse auf innere Qualitäten gezogen werden können, dieser im 18. Jahrhundert verbreitete und systematisierte Glaube ist noch heute keineswegs ausgestorben. In seiner existentialistischen Überschätzung menschlicher Autonomie meinte Jean-Paul Sartre sogar, jeder Mensch sei ab einem bestimmten Alter für sein Gesicht selbst verantwortlich. In den Körper schreiben sich nach solchen Vorstellungen sichtbare Zeichen für unsichtbare Merkmale des Charakters und des Seelenlebens ein.
Daß der Körper zu einer Art Buch wird, dessen lesbare Zeichen verborgene Wahrheiten repräsentieren, mochte der Sympathisant Lavaters, Goethe, selbst jedoch nicht immer anerkennen. Als nach der Italienreise sein Leibesumfang erheblich zugenommen hatte, schrieb er einem alten Bekannten: „Wenn wir uns wieder sähen, so hoffte ich, Ihr solltet mich dem Innern nach wohl wieder erkennen, was das Äußere betrifft, so sagen die Leute, ich sei nach und nach dick geworden“.
Natürlich hat sich Goethes äußere Erscheinung im Laufe seines Lebens verändert. Identisch geblieben und damit zu einem Teil seiner Identität geworden sind allenfalls die große Nase (die gelegentlich in Übereinstimmung mit der damaligen Begrifflichkeit der Ästhetik auch als „erhaben“ charakterisiert wurde) und die ebenfalls auffallend großen, etwas hervorstehenden Augen. Doch schon über deren Farbe war man sich nicht ganz einig. Über sein „schwarzes Augenpaar“ dichtete Wieland 1776, und von „einem Paar schwarzglänzenden italienischen Augen“ schrieb wenig später Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Johanna Schopenhauer hingegen fielen 1806 seine „zwei klaren braunen Augen“ auf, und sie war nicht die einzige, die sie so sah.
Wie Goethe damals wirklich ausgesehen hat, glauben wir heute einigermaßen zu wissen. Zu seinen Lebzeiten entstanden unzählige Portraits und Beschreibungen seiner Person. Einen gewichtigen Teil davon hatte 1914 ein Buch von Emil Schaeffer gesammelt, eine von Jörn Göres überarbeitete Fassung davon erschien 1980. Zum Goethe-Jahr 1999 wurde sie als Taschenbuch neu aufgelegt.
Daß die achtzig abgebildeten Portraits und die vielen zitierten Berichte „in der Gesamtheit eine verläßliche Anschauung von Goethes äußerer Erscheinung“ vermitteln, wie der Herausgeber meint, ist allerdings zu bezweifeln. Goethe entzieht sich auch äußerlich jeder einheitlichen Festlegung. Wie über die Augen- existieren sogar über die Haarfarbe ganz widersprüchliche Zeugnisse. Gerade deshalb ist das Buch so lehrreich: Es zeigt, in welchem Ausmaß die Bilder einer Person Effekte von Inszenierungen sind, Konstrukte und Maskeraden, die über Projektionen, Phantasien und Wünsche mehr aussagen als über irgendeine angeblich authentische „Wirklichkeit“.
So zeigte sich Goethe zum Beispiel mit dem Portrait sehr zufrieden, das Joseph Karl Stieler 1828 auf Wunsch des bayerischen Königs Ludwig I. von ihm anfertigte. Doch nicht etwa, weil es seinem wirklichen Aussehen maximal entsprochen hätte. Wie Stieler dem König mitteilte, habe der damals fast achtzigjährige Goethe gesagt: „Sie zeigen mir, wie ich sein könnte. Mit diesem Manne ließe sich wohl gerne ein Wörtchen sprechen. Er sieht so schön aus, daß er wohl noch eine Frau bekommen könnte.“ Ähnlich hatte er schon gut dreißig Jahre zuvor eine jener Büsten kommentiert, die ihn nach den ästhetischen Vorbildern der Antike modellierten. „Meine Büste ist sehr gut geraten; jedermann ist damit zufrieden. Gewiß ist sie in einem schönen und edlen Stil gearbeitet, und ich habe nichts dagegen, daß die Idee, ich hätte so ausgesehen, in der Welt bleibt.“
Die Rede ist hier von der Büste, die Alexander Trippel 1787 anfertigte. Der Künstler selbst erklärte, er habe die Büste „im anticken Stil“ gefertigt und die „Form eines Apollo Kopff“ angestrebt. Diese stilisierende Simulation wurde etliche Zeit später ihrerseits mit stilisierenden Eingriffen durch Friedrich Tieck simuliert. Wiederholt gerieten Goethe-Portraits zu Simulationen von Simulationen. Bei deren Beurteilung hatte das Kriterium der Ähnlichkeit mit dem Original zwar durchaus seine Geltung, doch schloß es Stilisierungen des Realen keineswegs aus. Als Goethe 58 Jahre alt war, ließ er die lästige Prozedur der Herstellung einer „Lebendmaske“ über sich ergehen. Es sei, so kommentierte er, „keine Kleinigkeit, sich solchen nassen Dreck ins Gesicht schmieren zu lassen“. Der Gipsabdruck läßt deutlich starke Narben erkennen, Relikte der Pocken, von denen Goethe als Jugendlicher befallen worden war. Der Psychiater Paul Möbius wies später an ihm die erheblichen Asymmetrien von Goethes Kopf nach. Auf der Büste, die nach diesem Abdruck angefertigt wurde, ist von all dem nichts mehr zu sehen. Als Goethe den Abdruck zur Vorlage für ein geplantes Denkmal in Frankfurt empfahl, vertraute er ausdrücklich auf die idealisierende Arbeit des Künstlers: „Die Formen sind hier ganz genau, Geist, Leben und Liebe muß ja ohnehin der Künstler hineinstiften.“
Oft war die Wahrnehmung der realen Person durch die Bilder von ihr offensichtlich präformiert. So berichtete ein enthusiastischer Zeitgenosse: „Ich fand ihn allein, wunderbar aufgeregt, glühend, ganz wie im Kügelgenschen Bilde“. Den idealisierenden Portraits entsprachen die verbalen Idealisierungen. „Ich schwöre, daß ich nie einen schöneren Mann von sechzig Jahren gesehen habe“, schwärmte ein Zeitgenosse. Und zu einer Zeit, als Charlotte von Stein monierte, er sei „entsetzlich dick“ geworden, fand ihn ein anderer „angenehm dick“ und urteilte: „Goethe ist einer der schönsten Männer, die ich je gesehen habe“. In noch höheren Tönen schwelgte 1809 ein Graf: „Welch ein Kopf! Wie eines Tempels Gewölbe hebt sich die Stirn. Die Augen treten licht und klar wie strahlende Heroen im dunkelglänzenden Waffenrock mit ernstem, gemessenem Schritte aus der gewaltigen Wölbung. Ruhig und doch voll Feuer. So gebieterisch und doch so milde.“
Mancher freilich, der Goethe bislang nur als mediales Konstrukt kannte, war in der Konfrontation mit der Wirklichkeit schockiert. Schiller befand 1788: „Sein erster Anblick stimmte die Meinung tiefherunter, die man mir von dieser anziehenden und schönen Figur beigebracht hatte.“ Und Heinrich Heine berichtete im Oktober 1824: „Über Goethes Aussehen erschrak ich bis in tiefster Seele, das Gesicht gelb und mumienhaft, der zahnlose Mund in ängstlicher Bewegung, die ganze Gestalt ein Bild menschlicher Hinfälligkeit. Vielleicht Folge seiner letzten Krankheit.“
Acht Jahre später war Goethe tot. Karl Vogels Beschreibung des sterbenden, von „gräßlicher Todesangst“ entstellten Goethe und Eckermanns Schilderung des toten Körpers könnten kontrastreicher nicht sein. Die Ästhetisierung des Todes, die mit der Schrift Lessings „Wie die Alten den Tod gebildet“ zu einem epochalen Programm gegen die damals nicht nur bei Goethe panisch werdenden Todesängste geworden war, prägte Eckermanns Worte: „Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken, das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen.“