Briefe eines unaussprechlichen Menschen

Die Briefedition der sämtlichen Briefe Heinrich von Kleists

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich von Kleists Briefe - das heißt einmal tief einatmen und durch! Denn es ist nicht unbedingt ein Vergnügen, sich mit diesem Briefwerk zu beschäftigen. Ohnehin ist es ein Torso. Ein Torso, der den Freund so unsterblicher Werke wie "Der zerbrochene Krug", "Das Käthchen von Heilbronn" oder "Michael Kohlhaas" befremden muß. Die Kleistbriefe haben die Forschung von jeher irritiert, verstört, angeregt, sie haben etwas gleichsam Unerlaubtes, Unsägliches und Unerträgliches an sich, am liebsten würde man sie gleich wieder vergessen, um das Dramen- und Novellengenie um so höher zu halten.

Der Briefeschreiber Kleist zieht den Dichter Kleist unerbittlich ins Menschlich-Allzumenschliche hinab. Welch ein Kauz, Kindskopf und Dunkelmann (besser: Dunkelmann-Darsteller), möchte man ausrufen, wenn man die mitunter peinigenden Traktate liest, die er an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge oder an seine Halbschwester Ulrike schreibt; wie penetrant ist sein Versuch, der immer großmütigen und nachsichtigen Ulrike die Ehe aufzuschwatzen: "Es scheint mir, als ob Du bei Dir entschieden wärest, Dich nie zu verheirathen. Wie? Du wolltest nie Gattinn u Mutter werden? Du wärst entschieden, Deine höchste Bestimmung nicht zu erfüllen, Deine heiligste Pflicht nicht zu vollziehen? Und entschieden wärst Du darüber? Ich bin wahrlich begierig die Gründe zu hören, die Du für diesen höchst strafbaren u verbrecherischen Entschluß aufzuweisen haben kannst."

Sicher, man darf diese Briefe nicht nur mit den Augen des 20. Jahrhunderts lesen. Aber auch um 1800 schon geht dieser Ton über das Zulässige hinaus: "Das Getöse übertönt alle Besinnung". Nicht Sorge um das Wohlergehen der drei Jahre älteren Halbschwester (die Kleist um 38 Jahre überleben wird) prägt diese Tonlage, sondern naseweise Überheblichkeit, Arroganz, selbst Zynismus. Allzuoft ist Kleist bei Ulrike Bittsteller, abhängig von ihr, profitiert er von ihrem Großmut, und so muß er sich wohl auf diese rüde Art von ihrer Dominanz befreien.

Ich will nicht spekulieren und nicht psychologisieren. Sondern davon sprechen, wie es dem Leser bei der Lektüre der Kleist-Briefe ergeht. Oh, es ergeht ihm bei all den Zumutungen nicht schlecht, denn das Briefwerk ist doch auch bewegend und lehrreich. Man sitzt zähneknirschend über diesem Briefwerk, dann wieder erheitert, manchmal bewundernd. Bewunderung etwa für Ulrike von Kleist, deren Persönlichkeit quasi aus dem "Off" erschlossen werden muß, da ihre Briefe nicht erhalten sind. Diese Ulrike von Kleist hat Langmut bewiesen, hat ihrem Halbbruder Geld vorgestreckt, hat sich um ihn gesorgt. Sie ist es gewesen, der Kleist wiederholt seinen Selbstmord angekündigt hat, vielleicht öfter, als es hier dokumentiert ist. Weil der Ruhm, "das größte der Güter der Erde", ihm versagt bleibe, schreibt er am 26.10.1803, wolle er sich in den Tod stürzen." Briefe eines unaussprechlichen Menschen.

Ulrike sah mit an, wie er seine Offizierslaufbahn hinschmiß, wie er seine Universitätsstudien halbherzig und ohne Resultat betrieb, wie er das väterliche Erbe durchbrachte und sich vergeblich dem Dichterruhm an die Rockschöße zu heften versuchte. Sie erfuhr endlich von seinem schrecklichen Tod am Wannsee (1811), sie erlebte noch die von Ludwig Tieck besorgten Ausgaben der "hinterlassenen" (1821), "gesammelten" (1826) und der "ausgewählten Schriften" (1846/47). Eine Ausgabe seiner Briefe erlebte sie nicht mehr, und vermutlich wäre sie über das erhaltene Briefwerk nicht sehr glücklich gewesen. Heute, 150 Jahre nach Ulrikes Tod, liegt Dieter Heimböckels sorgfältige, alles in allem ökonomisch konzipierte Brief-Edition vor. Der Herausgeber hat die 233 Briefe von Kleist und die 22 erhaltenen Briefe an Kleist schlank kommentiert und mit einem instruktiven Nachwort versehen. Heimböckel konnte bereits auf die vorzügliche Briefausgabe von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns zurückgreifen, die 1997 im Deutschen Klassiker Verlag erschienen ist. Der Kommentar seiner Ausgabe fällt deutlich schmäler aus, was nicht unbedingt von Nachteil ist: Die absurden Volten etwa, die die Kleistforschung bezüglich der Würzburger Reise von 1800 geschlagen hat, bedürfen keiner eingehenden Darstellung mehr, seit Ormanns und Müller-Salget diese Form der Spekulation knapp und überzeugend zurückgewiesen haben.

Das Nachwort wendet sich gegen die Versuche neuerer Kleistforschung, die Briefe als Rollenprosa zu lesen. Vom sogenannten Sprachskepsis-Brief an Ulrike (5.2.1801) schlägt es einen bedenkenswerten Bogen zum Lord-Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals (1902); schon bei Kleist ist die Sprachskepsis mit der Identitäts- und Erkenntnisproblematik eng korreliert. Für sein "briefliches Sprachhandeln" ergibt sich die paradoxe Situation, daß er im "Redesubstitut" des Briefes sein "Grauen" beschreiben muß, das ihn im Gespräch und in Gesellschaft "ergreift". Die Sprachproblematik dominiert Heimböckels Nachwort so sehr, daß er auf andere zentrale Aspekte des Kleistschen Briefwerkes kaum mehr eingehen kann.

Titelbild

Heinrich von Kleist: Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Dieter Heimböckel.
Reclam Verlag, Stuttgart 1999.
850 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3150097681

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