Die Unreinheit der letzten Rosen. Ein Widerspruch

Zu Dirk Ippens Sammlung der beliebtesten deutschen Gedichte

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorsicht! Diesem Buch liegt ein Denkfehler zugrunde. Es gibt vor, die hundert "beliebtesten" deutschen Gedichte zu präsentieren, aber es enthält lediglich diejenigen hundert Gedichte, die in fünfzig - wiederum den angeblich "beliebtesten" - Anthologien des 20. Jahrhunderts am häufigsten enthalten sind. Die Gedichte wurden nach der Häufigkeit ihres Vorkommens angeordnet, so dass sich daraus nach Auffassung des Herausgebers sogar eine "Hitliste" ergibt. Dieses Sammlungs- und Anordnungsprinzip führt notwendigerweise dazu, dass Gedichte, die von Anthologie zu Anthologie ,weitergeschleppt' wurden, den Vorrang erhielten vor solchen Gedichten, die erst im Laufe des 20. Jahrhunderts hinzugekommen sind. Welche Gedichte wirklich am "beliebtesten" sind oder waren, kann man deshalb dieser Sammlung nicht entnehmen; allenfalls ließe sich behaupten, das Buch enthielte diejenigen deutschen Gedichte, auf die viele Anthologie-Herausgeber im 20. Jahrhundert nicht verzichten wollten.

Aber selbst dann bleiben erhebliche Zweifel. Ich will das am Beispiel des an erster Stelle genannten Gedichtes und demnach angeblich beliebtesten Gedichtes deutscher Sprache erläutern, an Ludwig Uhlands "Frühlingsglaube" ("Die linden Lüfte sind erwacht"). Es kommt offenbar in den 50 zugrunde gelegten Anthologien am häufigsten vor. Aber daraus kann man doch keineswegs schließen, es handele sich wirklich um das beliebteste Gedicht deutscher Sprache! Denn es wäre durchaus denkbar (und ist sogar wahrscheinlich), dass sich die Anthologie-Herausgeber zwar darüber weithin einig waren, dass dieses gewiss schöne Gedicht zwar nicht fehlen dürfe, dass es jedoch erst ziemlich weit unten zu platzieren sei, jedenfalls nicht ausgerechnet unter die hundert beliebtesten deutschen Gedichte gehöre oder gar an deren erste Stelle. Auch das mehrfache Vorkommen eines Gedichtes in den Anthologien sagt über seinen Beliebtheits-Rang überhaupt nichts aus. Schließlich steht das Uhland-Gedicht etwa bei Conrady nicht unter 100, sondern unter mehr als 1000 deutschen Gedichten! Um über den Beliebtheits-Rang eines in eine Anthologie aufgenommenen Gedichtes etwas aussagen zu können, müsste man den Stellenwert dieses Gedichtes innerhalb dieser Anthologie berücksichtigen: Wie viele Gedichte enthält diese Anthologie, nach welchen Prinzipien wurde sie eingerichtet, welchen Zeitraum umfasst sie, bietet sie nur lyrische Gedichte oder auch Balladen usw. - Fragen über Fragen!

In dieser Hinsicht nun wird man als Leser des Buches völlig allein gelassen. Welche Anthologien ausgewertet wurden, wird überhaupt nicht mitgeteilt, so dass die Ergebnisse nicht nachvollziehbar sind. Zu Bedenken besteht allerdings auch hier Anlass. Das zeigt eine Stichprobe anhand von sieben Anthologien, die mir eben zur Hand sind (Will Vesper, Walter Urbanek, Echtermeyer-von Wiese, Heinz Piontek, Wilhelm Klemm, Karl Otto Conrady und Hans-Joachim Simm). Tatsächlich ist Uhlands "Frühlingsglaube" in immerhin sechs dieser Anthologien vertreten, so dass es sicher zu den häufig vorkommenden Gedichten deutscher Sprache in Anthologien des Gesamtzeitraums gehört. Es gibt aber auch Gedichte, die in allen sieben dieser Anthologien begegnen, die man aber trotzdem in Dirk Ippens "Hitliste" vergebens sucht. Dazu gehört Walthers von der Vogelweide "Under der linden", ein Gedicht, das sicher in keiner ernst zu nehmenden Anthologie deutscher Lyrik des Gesamtzeitraums fehlen dürfte. Aus der mittelhochdeutschen Lyrik gehören im Übrigen nach Auskunft dieser Anthologie lediglich Kürenbergs "Ich zoch mir einen valken" und das anonyme Lied "Du bist mîn" zu den 100 beliebtesten Gedichten. Und die Lyrik seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist sogar nur mit einem einzigen Gedicht vertreten: mit Paul Celans "Todesfuge" (1948). Es hätte den Herausgeber doch stutzig machen müssen, dass Gedichte, die erst in den letzten 50 Jahren beliebt wurden, keine Chance hatten, in diese Sammlung aufgenommen zu werden. Die bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts, Brecht und Benn, sind mit je einem (frühen) Gedicht vertreten, Ingeborg Bachmann und Günter Eich fehlen ganz, von Ernst Jandl und Robert Gernhardt ganz zu schweigen. Dagegen begegnen Paul Heyse, Börries Freiherr von Münchhausen, Ernst Freiherr von Feuchtersleben, Hans Carossa und Agnes Miegel unter den Autoren der beliebtesten Gedichte deutscher Sprache. Die Gegenprobe anhand der sieben genannten Anthologien zeigt nun aber, dass beispielsweise Feuchterslebens "Nach altdeutscher Weise" gedichtetes Spruchgedicht "Es ist bestimmt nach Gottes Rath" nur in einer dieser Anthologien (bei Klemm) vertreten ist. Wie erklärt es sich also, dass es in Ippens Anthologie so weit oben platziert wird?

Einige Lyriker sind mit mehreren Texten vertreten. An der Spitze steht Goethe mit 13 Gedichten. Ihm folgen Mörike mit acht sowie Eichendorff und Heine mit jeweils sechs Gedichten. Viermal werden Fontane, Platen und Schiller zitiert. Dabei ist auffallend, dass Goethes Balladen noch vor "Über allen Gipfeln ist Ruh" (Platz 18) rangieren. Überhaupt erstaunt der hohe Anteil an Balladen (etwa 30) in dieser Anthologie. Auch in diesem Fall wüsste man gern, ob nur solche Anthologien ausgewertet wurden, die sowohl lyrische Gedichte als auch Balladen enthalten oder ob (und gegebenenfalls: wie viele) separate Balladenanthologien berücksichtigt wurden. Denn je nach dem Anteil dieses oder jenes Anthologietyps verschiebt sich selbstverständlich die "Hitliste". Auch insofern wird man über das Zustandekommen der Anthologie im Unklaren gelassen.

Völlig ungenügend ist schließlich das sogenannte "Quellenverzeichnis". Nur für acht von 46 Autoren werden überhaupt Quellen angegeben! Nach welchen Vorlagen und wie zuverlässig die Texte gedruckt wurden, bleibt also unklar. Auch hier sind erhebliche Zweifel am Platz: Ernst von Feuchterslebens Text beispielsweise begegnet in einer Schreibweise, die weder dem Erstdruck noch dem Abdruck in Theodor Storms "Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius" (1870) oder in Ralph-Rainer Wuthenows Sammlung im Rahmen der Reihe "Epochen der deutschen Lyrik" (1970) entspricht, gleichwohl aber eine altertümliche Rechtschreibung aufweist ("Rath", "bescheert", "seyn", "werth"), so als sei sie einer authentischen Quelle entnommen. Und Hölderlins berühmte "Hälfte des Lebens" bekommt - o Graus! - gleich im Titel den direkten Artikel verpasst. Nur mit Verblüffung kann man zur Kenntnis nehmen, dass Philip Laubach, der dem Zeitungsverleger Dirk Ippen ("Münchner Merkur") bei der Herausgabe dieser Anthologie zur Seite stand, im Graduiertenkolleg "Textkritik als Grundlage und Methode historischer Wissenschaften" tätig ist.

Wohlgemerkt: Hier wird kein "wissenschaftlicher Apparat" mit Textkritik, Lesarten und Kommentar gefordert, sondern nur ganz schlicht die Auskunft: Welche Anthologien wurden zu Rate gezogen und nach welchen Textvorlagen wurden die Gedichte gedruckt. Das ließe sich bequem auf zwei Seiten sagen.

Kurz: Diese Anthologie enthält gewiss eine Reihe schöner Gedichte. Aber keineswegs kann sie überzeugend nachweisen, dass sie wirklich die "beliebtesten" deutschen Gedichte bietet. Insofern spiegelt sie Tatsachen vor, macht sie aber nicht transparent. Und indem sie herkömmliche Kanones lediglich auszählt und die Innovationen ignoriert, die es ja auch in Anthologien regelmäßig gibt (sie zeigen einen Beliebtheitswandel zur Gegenwart hin an), wird aus der scheinbar so ,objektiven' Addition des Herkömmlichen dessen Potenzierung, verbunden mit einer Verweigerung der Moderne.

Titelbild

Dirk Ippen: Des Sommers letzte Rosen. Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
192 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 340648199X

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