Rom, Öl auf Leinwand

Gustav Seibt erzählt in "Rom oder Tod", wie Italien zu seiner Hauptstadt kam

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor zieht seine Leser ganz unvermittelt mit hinein in den Gang der Ereignisse. Unversehens findet er sich wieder im Tross der Journalisten, die einen der ungewöhnlichsten Feldzüge der Geschichte zu dokumentieren haben, sei es für die mitfiebernde junge italienische Nation oder für eine aus der Distanz höchst interessierte europäische Öffentlichkeit. Die Truppen des Königreiches Italien überschreiten am 12. September 1870 die Grenzen des Kirchenstaates, im Begriff, Rom militärisch zu bezwingen und die Einigung der italienischen Halbinsel zu vollenden. Doch wenig ist in den Berichten von militärischem Geschehen die Rede, die uralte römische Campagna scheint die neugierigen Besucher völlig in ihren Bann geschlagen zu haben - vielmehr Gemälde denn Berichte sind das, was sie den Daheimgebliebenen zu vermitteln haben, und an genau diesem Punkt setzt Gustav Seibts Erzählung ein. Durch feine Beobachtung gelingt es ihm, zunächst die literarische Begleitung des Eroberungsspektakels nachzuempfinden.

Der Kirchenstaat ist unterdessen für die Eroberer eine "Terra incognita", die als Freilichtmuseum die angereisten Sprachrohre des liberalen Bürgertums aus dem "modernen" Europa empfängt. Was zerriss man sich nicht seit Jahren das Maul über jenes erwiesenermaßen furchtbar schlecht regierte Überbleibsel der mittelalterlichen Weltordnung! Nennenswerte Ökonomie war im neuen Landesteil nicht zu erwarten, ebenso wenig eine publizistische Öffentlichkeit oder eine funktionierende moderne Verwaltung. Erst auf heftiges Drängen aus dem gesamten europäischen Ausland hin - sogar aus Frankreich wurde Kritik vernommen - hatte der Papst zuvor einigen wenigen Verwaltungsreformen zugestimmt, deren Erfolg jedoch als fraglich galt. Rom wie sein Umland schienen in einem mittelalterlichen Zustand konserviert zu sein, mit eingeschlossen die jährlichen Fieberwellen und die Mückenplagen, die die Stadt aus den umgebenen Sümpfen heimsuchten. Der stadtrömischen Bevölkerung wurde die Fähigkeit, Bürgerschaft eines "modernen" Italien zu sein, gar abgestritten. Großzügige sozialstaatliche Unterstützung hätten die Römer jegliche Arbeitsmoral vergessen lassen, das Wirken des päpstlichen Schulwesens auf den Bildungsstand der Bevölkerung sei eine Katastrophe, stellten die Neuankömmlinge fest. Ernst genommen wurde der Kirchenstaat also weder im In- noch im Ausland; er war beinahe von ethnologischem Interesse.

Die Brisanz der Hauptstadtfrage liegt demnach nicht in ihrer politischen Dimension begründet. Schreckte man auf bei Seibts Bemerkung über das "Knirpstum" der deutschen Hauptstadtfrage - schließlich musste Berlin ein halbes Jahrhundert lang als Symbol für das politische Weltgeschehen herhalten -, man verstünde ihn falsch. Die Brisanz des römischen Problems innerhalb der europäischen Diplomatie entspricht eher dem Schauer, der die italienischen Truppen und Journalisten beim Einmarsch in den Kirchenstaat überkam: Nichts weniger als der uralte, einst die Gänge der Weltpolitik entscheidende Dualismus zwischen Papst und Kaiser, Kirche und Politik, Guelfen und Ghibellinen wird hier erneut und - wie die Diplomaten und Feldherren geahnt haben müssen - zum letzten Male ausgetragen. Diese Assoziationen sind nunmehr die Rüstkammer für einen Konflikt, der - fast - ausschließlich auf weltanschaulicher und rhetorischer Ebene stattfindet. Das Schlachtfeld als sein Austragungsort wurde klug vermieden, stattdessen vorsichtige, bisweilen gar übervorsichtig und zaudernd sich gebärdende Diplomatie des umsichtigen italienischen Außenministers Visconti Venosta zum probaten Mittel erkoren. Eine blutige Einnahme der Stadt war nicht gewünscht, ebenso wenig das Eingreifen auswärtiger Mächte, was römischen Verteidigungsbemühungen erst Aussicht auf Erfolg verliehen hätte. Doch die traditionelle Schutzmacht Frankreich hatte sich im Spätsommer 1870 selbst ihrer Haut zu erwehren; ernsthafte kriegerische Auseinandersetzungen waren also nicht zu erwarten.

Mit der Okkupation war die Arbeit jedoch nicht getan, der Umzug der Regierung war noch zu bewerkstelligen. Gegner Roms als italienischer Hauptstadt hatten nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass die Stadt gar nicht gerüstet sei, dem Verwaltungsapparat Raum zu geben. Das war sie tatsächlich nicht. Die ehemaligen Residenzstädte Florenz und Neapel boten nach ihrer Einverleibung in den jungen italienischen Staat ein hervorragendes Angebot an nun leer stehenden Verwaltungsgebäuden und Residenzen. In Rom jedoch verblieb der Klerus, mitsamt dem päpstlichen Verwaltungsapparat, in seinen angestammten Räumlichkeiten. Groß angelegte Um- und Neubauprojekte waren also erforderlich. Die entstehenden Unannehmlichkeiten stellen den Umzug vom Rhein an die Spree deutlich in den Schatten: Immerhin wurden den Pendlern zwischen Rom und Florenz verbilligte Zugfahrkarten angeboten.

Die angedachten Möglichkeiten eines zukünftigen Zusammenlebens von Papst und profaner italienischer Regierung in ein und derselben Stadt, die für die Zeitgenossen denkbar waren, sind Legion. Sollte dem Papst die Stadt Rom als eine Art Rest-Patrimonium erhalten bleiben, oder nur die sogenannte "Leonidische Stadt", was der späteren Vatikanstaats-Lösung recht nahe kam, oder sollte er aber, was letztlich die Konsequenz des italienischen Zugriffs war, über keinerlei Territorium mehr verfügen? Zunächst galt Letzteres, begleitet von den heftigsten Verwünschungen des Papstes. Dieser hatte schon das italienische Königtum Viktor Emanuels II. nicht anerkannt, war dem jungen Staat aber von nun an spinnefeind. Umso überraschender war es also, dass in den Lateran-Verträgen von 1929 es ausgerechnet Mussolini gelang, den Beziehungen Italiens zu dem in seinem Lande weilenden Oberhaupt der katholischen Christenheit einen rechtlichen Rahmen zu geben. Spannungen blieben aber auch weiterhin nicht aus; weder in Bezug auf das Verhältnis Italiens zur Kurie, noch innerhalb des profanen Staates in Bezug auf seine Hauptstadt. Die ökonomisch starken Städte Norditaliens schreiben ihrer traditionell finanzschwachen Hauptstadt gerne ein parasitäres Dasein zu.

Seibt versteht es ganz augenscheinlich gut zu erzählen: sein Stil ist elegant und essayistisch, eher Emotion und Assoziation, denn irgendeine Ereignisgeschichte vermittelnd. Zu Wort kommt hier das literarische und publizistische Italien des 19. Jahrhunderts, in langen Passagen einen Abdruck der nationalen, liberalen, kirchenkritischen oder kirchentreuen Empfindungen gebend. Es gelingt dem Autor, leise hinter diese Zeugen zurückzutreten und die Faszination, die ihre bilderreichen Gedankengänge auf ihn ausgeübt haben, unmittelbar und passend gerahmt weiterzuleiten. Das Konzept ist stimmig und der Autor annonciert selbst, keine Fachliteratur geschrieben zu haben: "Kontakte mit der Fachwelt hatte ich keine". Diese schenkte der italienischen Hauptstadtfrage bisher eh nur wenig Interesse, so dass Seibt die Gelegenheit wahrnehmen konnte, ein Thema auf eigene Weise zu besetzen. Das Resultat ist eine eigenwillige Geschichte von Öffentlichkeit und Literatur, Geist und Politik. Es ist Geschichtsschreibung durch Sprache.

Titelbild

Gustav Seibt: Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt.
Siedler Verlag, Berlin 2001.
351 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3886807266

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