Morde aus Moral

Peter H. Jamins Roman "Der Sieg der Taube"

Von Britta WaltmansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Waltmans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Miguel lugte durch den Türspalt zum Bett. Ein dicker weißer Hintern hob und senkte sich in gleichmäßigen Bewegungen in diesem Berg aus Kleidungsstücken und Daunenfedern. Nenas Gesicht schaute unter der Armbeuge des Vaters hervor. Sie blickte in seine Richtung. Es schien ihm, als sähe sie ihn an. Stumpf. Kalt. Leer der Blick. Er wollte sich abwenden, doch wie hypnotisiert starrte er in die Augen der Freundin, als könnte er ihr dadurch den Schmerz erleichtern. Er war unfähig, sich zu bewegen. Er wollte ihr helfen, herausstürmen aus seinem Versteck, den Mann aus dem Bett reißen und ihn niederschlagen, Nena an sich drücken und dann mit ihr durch das Fenster steigen und fortlaufen. Ganz weit fort. Ganz weit!"

Beim Lesen dieser Zeilen steigt einem die blanke Wut in den Hals. Zu viele Kinder werden tagtäglich sexuell missbraucht und die meisten kennen ihren Teufel, oder lieben ihn sogar. Wie groß muss die Verwirrung und auch Verzweiflung eines kleinen Kindes sein, das vom eigenen Vater zu Dingen gezwungen wird, die es nicht versteht, die ihm aber weh tun und vor denen es Angst hat? Wie soll dieses Kind zwischen Recht und Unrecht unterscheiden, wenn es den Täter liebt und sein Handeln sonst für richtig hält? Aus Scham und Angst, die Liebe der betreffenden Person zu verlieren, wird es sich niemandem anvertrauen und am Ende wird es sich sogar selbst die Schuld für die schrecklichen Ereignisse geben, die ihm widerfahren.

Schon im ersten Kapitel stößt Peter H. Jamin die Leser seines Romans "Der Sieg der Taube" auf ein ernstes Thema, das sich als roter Leitfaden durch das ganze Buch ziehen wird. Nach dieser eindringlich geschilderten Szene macht die Handlung einen Zeitsprung von 30 Jahren und versetzt den Leser in ein kleines spanisches Dorf auf Mallorca. Hier wurden mehrere mysteriöse Morde begangen, die von Polizeikommissarin Paloma Tobal aufgeklärt werden sollen. Bei den Ermittlungen stößt die junge Kommissarin jedoch nicht nur auf die Leichen eines in seinem eigenen Weinfass ertrunkenen Weinhändlers, eines an einem Stück Kuchen erstickten Bäckers und eines erschossenen Polizisten, sondern auch auf verbotene Liebschaften, tratschende Einwohner und eine nahezu mittelalterliche, frauenfeindliche Dorfgesinnung. Insbesondere ihre Kollegen können sich nur schwer mit einer Frau als Chefin abfinden und machen es Paloma mit ihrer dörflichen Langsamkeit und Unerfahrenheit nicht gerade einfach. Eine wirkliche Hilfe bei ihren Nachforschungen ist ihr nur der junge Priester Pedro, der ihr die Dorfbewohner und deren Sitten und Bräuche näher zu bringen versucht. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft mit nahezu romantischen Zügen, die jedoch von Anfang an dunkel überschattet ist. Denn letztendlich führen die Ermittlungen Paloma nicht nur in die eigene Vergangenheit, sondern auch in das Pfarrhaus des Dorfes. Und die gerechte Wahrheit kann Paloma am Ende nur mit einer Lüge retten.

Schon der Titel "Der Sieg der Taube" nimmt im Grunde so manches Handlungselement voraus, insbesondere, wenn man hinter die Bedeutung des Namens "Paloma" gekommen ist, der nichts anderes als das spanische Wort für "Taube" ist. Aber die Erzählung nimmt eine überraschende Wende, die an den bisherigen Erkenntnissen zweifeln lässt und die Spannung damit am Ende sogar noch einmal drastisch steigert. Wer die wahren Gründe für die mysteriösen Morde zu erahnen beginnt, fühlt sich wahrscheinlich eher geneigt, dem Mörder zuzujubeln, als Paloma eine erfolgreiche Auflösung des Falles zu wünschen. Vielleicht erhofft sich derjenige sogar, dass der Täter ohne Strafe davonkommt. Schließlich rächt er ja nur, was die Justiz nicht einmal verfolgt - und hilft damit den Hilflosesten unter uns. Dass Selbstjustiz, und noch dazu Mord, jedoch nicht das geeignetste Mittel ist, um Unrecht zu bekämpfen, mag der Leser in diesem Moment vielleicht gerne vergessen. Schließlich ist Kindesmissbrauch ein Thema, das uns allen bis ins Innerste dringt und heftigste emotionale Reaktionen hervorruft.

So kann auch der Düsseldorfer Schriftsteller und Journalist Peter H. Jamin als Experte auf diesem Gebiet bezeichnet werden. Neben einigen Kurzgeschichten veröffentlichte er hauptsächlich Fachliteratur über das Problem des Kindesmissbrauchs und seiner Folgen. Die Idee zu diesem Kriminalroman kam ihm tatsächlich auf Mallorca, wo die geheimnisvolle Atmosphäre des Ortes und seines eigenen Hauses die Entstehung der literarischen Figuren der Kommissarin Paloma Tobal und des Padres Pedro begünstigten. Man kann nur hoffen, dass diese auf Anhieb sympathischen Charaktere nicht komplett von der Bildfläche verschwinden, sondern die Literatur auch weiterhin mit ihrem Charme bereichern.

Mit seiner einfachen Sprache zaubert Peter H. Jamin das Bild einer idyllischen Landschaft und eines ruhigen Dorfes mit romantischen Plätzen und verspielten Gärten vor das innere Auge des Lesers. Fernab der hektischen und lauten Touristenzentren Mallorcas kann man so die Insel neu kennen lernen. Er erschafft damit einen harten Gegensatz zu den brutalen Verbrechen, deren Opfer kurz, aber prägnant beschrieben werden. Der schnelle Wechsel zwischen Ruhephasen und schneller Ereignisfolge fordert dem Leser steigende Aufmerksamkeit ab und zieht ihn so schnell in seinen Bann. Man rätselt und spekuliert mit der Kommissarin um die Wette. An manchen Stellen scheint das Buch leicht durchschaubar zu sein, und glaubt man sich gerade auf der sicheren Seite, überrascht es immer wieder mit neuen Wendungen und Erkenntnissen.

Peter H. Jamin begeistert hier mit einem spannenden und durchdacht konstruierten Roman. Man meint sich an Kleinigkeiten zu erinnern und ist doch immer noch einen Schritt von der Lösung entfernt. Jeder Krimiliebhaber wird dieses Buch verschlingen. Koste es, was es wolle!

Titelbild

Peter H. Jamin: Der Sieg der Taube. Roman.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2001.
188 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3933749549

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