Gregor Samsa, mehrdeutig
Christopher M. Schmidt über Interpretation als literaturtheoretisches Problem am Beispiel von Kafkas "Verwandlung"
Von Waldemar Fromm
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie literaturtheoretische Arbeit von Christopher M. Schmidt beschäftigt sich mit dem Thema der Vieldeutigkeit in literarischen Texten. Die Fragestellung wird anhand des gesamten Spektrums der Diskussion zwischen Dekonstruktivismus, Radikalem Konstruktivismus und Hermeneutik entwickelt, also zwischen den Möglichkeiten der Annahme "unkontrollierter Unbegrenztheit bis zu starrer Eingrenzbarkeit" von Bedeutung in literarischen Texten. Der Autor betrachtet das Verhältnis von semantischer Eindeutigkeit und Unbegrenzbarkeit als einen dynamischen Prozess, den er mit den Begriffen Aktualisierung und Virtualisierung beschreibt. Er führt die Auseinandersetzung im Rahmen der Isotopie-Theorie, wie sie von F. Rastier und U. Eco weiterentwickelt wurde.
Schmidt diskutiert sprachphilosophische, linguistische und semiotische Ansätze, um das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit genauer zu erfassen. Die theoretisch orientierten Kapitel beschäftigen sich vor allem mit der begrifflichen Klärung der Literarizität von Texten. Der Autor betont besonders die Notwendigkeit der Ergänzung textlinguistischer Beschreibungsverfahren durch Kriterien der Literarizität. Zur genaueren Bestimmung der Literarizität von Texten verwendet Schmidt insbesondere Nelson Goodmans Beschreibung der referentiellen Verbindung zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Literarische Texte exemplifizieren danach nicht buchstäblich, sondern metaphorisch "Etiketten" oder Sujets. Vieldeutigkeit wird so von der Rezipientensituation und deren Wirklichkeitsbezug abhängig gemacht, die Rekonstruktion von "Etiketten" erfolgt mittelbar über die Bedingungen der Rezeption. Die Kommunikationssituation bestimmt Schmidt auf drei Niveaus, die aus hermeneutischer Sicht nach der Befragungsstrategie des Rezipienten beschrieben werden können: das allgemeinste Niveau entspricht der Befragung des abstrakten Autors. Zu den drei kommt ein E4 genanntes Kommunikationsniveau hinzu, das die textexternen Bedingungen von Rezeptionsprozessen abbilden soll.
Die Kapitel zur Bedeutungsgenerierung und zu den Möglichkeiten von deren Analyse sind detailreich und konzentriert. Der Autor setzt sich mit der Erzähltheorie und linguistischen Verfahren der Textanalyse (u. a. Thema-Rhema-Gliederung, Prototypensemantik) auseinander. Die Diskussion der weit verzweigten Ansätze wird immer in Hinsicht auf die Analysierbarkeit von Bedeutungen in literarischen Texten geführt. Schmidt präferiert in einem starken theoretischen Teil die Isotopie-Theorie, die er nicht zuletzt deshalb weiterentwickelt, weil sie Lesarten nicht aus- sondern einschließt und somit mehrere Bedeutungsgewebe je nach Kontext ausweisen kann, die Anzahl der Kontexte aber aufgrund des vorgegebenen Textes begrenzen kann. Vieldeutigkeit geht nicht in Beliebigkeit über. Die Vorteile der Isotopie-Analyse bestehen laut dem Verfasser in der Möglichkeit, eine Isotopie-Matrix zu erstellen, die für eine Begrenztheit von Mengen möglicher Bedeutungen spricht.
Ins Zentrum der Beispielanalyse rückt eine Hauptfigur: Gregor Samsa. Der Autor nimmt an, dass eine Hauptfigur das Verhältnis von Autor, Text und Rezipient am ausführlichsten auf den Wirklichkeitsbezug des Textes insgesamt zurückführt.
Unklar bleibt in der Gesamtanlage der Arbeit das Verhältnis von theoretischer Fundierung und exemplarischer Analyse. Zu fragen ist zumindest, ob eine theoretische Ausschließung aller Analyseansätze bis eben auf die Isotopietheorie im ersten Teil nicht besser im zweiten Teil anhand ihrer Fehlleistungen am Text hätte aufgezeigt werden können. In der gegenwärtigen Anlage stützt die Analyse der Beispielerzählung die Isotopie-Theorie, ohne in direkter Konkurrenz mit einem weiteren Ansatz getestet oder zumindest verglichen worden zu sein. So beweist sich am Text, was vorher schon hypothetisch präferiert worden ist. Dieser Einwand spricht allerdings nicht gegen die plausible Verknüpfung sprachphilosophischer, linguistischer und ästhetischer Argumente.
Zu fragen ist, ob man die Bestimmung der Literarizität als eine metaphorische Exemplifikation auch auf die Rezeptionssituation insgesamt übertragen muss. Der kommunikationsorientierte Ansatz berücksichtigt bei der Beschreibung des Verhältnisses von Text und Rezipient nicht, dass Kommunikation nicht im buchstäblichen Sinne stattfindet. Die Anwendung des Begriffes "Kommunikation" auf die Rezeptionssituation ist selbst schon metaphorischer Art. Der Leser mag einen Dialog mit literarischen Texten simulieren, der (wie auch immer verstandene) Autor "antwortet" aber nicht im Rahmen einer realen Kommunikationssituation. Wenn aber die Anwendung des Begriffes metaphorisch ist, wäre dann die buchstäblich denotierbare Rezeptionssituation nicht genauer mit den Verfahren der Dekonstruktion zu beschreiben?