Immer schön am Abgrund bleiben

Elfriede Kerns neuer Roman "Schwarze Lämmer" zieht in den Bann verwunschener Zwischenwelten

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur ist ein "Nichtsnutz". Jedenfalls in den Augen seiner Schwester Ada. Er lutscht Zuckerstangen, schließt sich in seinem Zimmer ein, spielt auf seiner silbernen Flöte Lieder und streift jeden Tag durch den Stadtwald. Ada dagegen hält sich für "sittlich gefestigt" und führt ein geordnetes Leben. Sie arbeitet in der Pfarrei und nimmt seit dem Tod der Eltern ihre Rolle als Vormund sehr ernst. Sie mahnt, sie warnt, sie schimpft. "Ada", sagt der Erzähler, "hat mir das Leben zur Hölle gemacht."

Geschwister, die sich verletzen oder sogar umbringen ist ein Zentralthema schon in Elfriede Kerns Romanen "Kopfstücke" und "Etüde für Adele und einen Hund"; in ihrem nun erschienenen Roman "Schwarze Lämmer" variiert die österreichische Autorin dieses Thema erneut.

Zunächst ließe der jugendliche Held, der Streuner, der aufbegehrt und sich aufmacht, um am Ende irgendwo anzukommen, auf einen Entwicklungsroman schließen. Aber noch bevor man diese Schublade richtig öffnen könnte, muss sie schon wieder geschlossen werden. Denn nun folgt eine Geschichte, die halsbrecherisch eine Gratwanderung zwischen Vorstellbarem und Phantastischem vollzieht, jenseits einer geordneten Welt. Die Autorin schreibt sich am Abgrund entlang, und der Leser taumelt mit, verliert die Balance und gerät in den Sog einer ambivalenten Zwischenwelt, einer Welt der mystischen Symbole und Rituale, in der kein rationales Regelwerk mehr greift.

Auf einem seiner Streifzüge lernt Arthur Arthur kennen: Der ominöse Namensvetter haust in einer Hütte auf einer verborgenen Lichtung im Wald. Vielleicht ein Penner, vielleicht ein Aussteiger, in jedem Fall aber Diener und Vertrauter Majas, einer Nachfolgerin der Hekate. Die Göttin der Wegkreuzungen richtet einmal im Jahr ein Opferfest aus, und dann werden ihr unter anderen grauenvollen Opfergaben "schwarze Lämmer, junge Hunde und Honig" geschenkt. Arthur und seine Schwester Ada mit den schönen langen Haaren kommen dem "neuen Freund" gerade recht, und gemeinsam machen sie sich - Ada unfreiwillig und mit Fliegenpilzen betäubt - auf den Weg zu Majas Lager, dicht bei den drei großen Wegkreuzungen.

Arthur begegnet den beklemmenden Ereignissen gelassen-lakonisch oder naiv-unbesorgt, was beim Leser, der mehr ahnt und weiß, zunehmend Beunruhigung auslöst. Arthurs Welt ist auf rätselhafte Weise unheimlich und undurchschaubar, und doch können ihre Gefahren und Grausamkeiten nicht verletzen: zu verträumt und damit traumwandlerisch sicher und zuversichtlich bewegt er sich an den Abgründen des Abenteuers vorbei. Selbst wenn Arthur wie ein Tier vor einen Karren gespannt und probeweise im Kreis herumgepeitscht wird, scheint es keinen Zweifel zu geben, dass ihn die Märchenwelt weiter beschützen wird. Weil es sein Märchen ist? Jedenfalls durchdringt er das Geschehen mit seinem Bewusstsein, seiner Phantasie und macht es sich zu Eigen. So gerät er nie in die kalte und existentiell-apokalyptische Entfremdung zur Welt, wie sie Kafkas Helden erleiden.

Der Ich-Erzähler ist bei Kern deshalb so effektiv, weil die subjektive Perspektive sich an keine Realität bindet, sondern eher Realitäten schafft, was es noch schwerer macht, sich in den alogischen Windungen des Romans zurechtzufinden.

Mit enervierender Gelassenheit berichtet Arthur seine Erlebnisse im Lager von Maja: Sein "neuer Freund" entpuppt sich als Gegenspieler, Arthur muss an den Beutezügen für das Fest teilnehmen, wird eingesperrt und droht dann selbst zur Opfergabe zu werden. Doch das schwarze Schaf der Familie gibt sich in seinem Bericht als unschuldiges Lämmchen, das zum Glücklichsein wenig mehr zu benötigen scheint als sinnliche Genüsse - die Zuckerstangen, von denen er sich ausschließlich ernährt, und die silberne Flöte, die er wie einen Fetisch mit Hingabe wieder und wieder aus seiner Tasche zieht, um sie mit einem "weichen Tuch" zu "polieren" - die Symbolik wird verstanden, und homoerotische Avancen lassen nicht auf sich warten.

Das unerbittliche, repetitive Konstatieren ohne Wehmut fällt zusammen mit der Monotonie einer insistierenden, manchmal ermüdenden Syntax, deren hohes sprachliches Niveau man Arthur angesichts seiner offensichtlichen Ahnungslosigkeit und Unerfahrenheit nicht recht abkaufen will. Manierierte Worte wie "gebärden" oder "untrüglich" wirken gegen Arthurs Jugend anachronistisch und entheben den Roman in Zeitlosigkeit. Es scheint keine moderne Welt, in der die Figuren agieren, kein einziges Mal ist die Rede von Elektrizität, von Medien, von Politik. Aber dann lässt die Autorin doch Gegenstände des technischen Fortschritts auftauchen: Die Bushaltestelle oder die Lastwagen, die von Majas Dienern überfallen werden, bugsieren den Roman wieder in den Kontext des 20. Jahrhunderts.

Eine letzte Gewissheit lässt sich nicht finden, auch über Arthur nicht, der zwar entschlossen wirkt, aber zwischen Zuckerstangen und Kunst, zwischen knabenhaftem Träumer und berechnendem Verführer, alles andere als eindeutig erscheint. Zieht er seinen Kopf nur mit außerordentlichem Glück aus der Schlinge oder setzt er die Ahnungslosigkeit gerissen als Waffe ein? Weiß er um seine subtile Bösartigkeit und um das tragische Unglück, in das er andere stürzt?

Man ist geneigt, die Geschichte als Arthurs Tagtraum zu lesen, dem er unter seiner Bettdecke nachhängt, um seine Schwester zu vergessen, die ihn vor dem Bett stehend ausschimpft. Mehr als eine Hypothese ist auch das nicht. Bleibt, sich einfach einzulassen auf die Kern'sche Diktion der Unerklärbarkeit und der Mythen und auf das, was diese Literatur offensichtlich möchte: mit dem Leser spielen und ihn in den Bann einer Welt ziehen, die ihr Geheimnis auch am Ende nicht lüftet.

Titelbild

Elfriede Kern: Schwarze Lämmer. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2001.
178 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3902144114

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