Vielleicht undefinierbar
Lutz Seiler, Anne Duden und Farhad Showghi über Heimat
Von Ron Winkler
Heimat ist Vertrautheit. Ist ein mitgegebener oder aufgesuchter Bezugsraum. Etwas, das man sich vormacht oder etwas Vorgemachtes. Ein wie auch immer energetisches Zentrum für Exkursionen und Wiederkünfte, Fluchten und Bewahrungsbestrebungen. Heimat schafft Mentalität, sei es mittels Adaption oder mittels Abwehr. Sie ist eines der Basislager der eigenen Orientierungsversuche, eine ständig wiederkehrende Schablone für die Vergewisserungen des Ichs.
Die äußerst variable Konsistenz jenes Begriffes Heimat macht ihn zu einem steten Frageobjekt, unvermeidbar bei der Betrachtung der eigenen Psyche. Eindeutige und endgültige Definitionen sind zwischen den Polen faktischer und akquirierter Heimat nicht zu erwarten, immer nur Näherungswerte oder Updates. Heimat ist oft ein melancholisches Wort, ein schwer emotionaler Nenner in den Bilanzen der Erinnerung. In einem neuen Band der "Göttinger Sudelblätter" versuchen drei Schriftsteller die Aufrechnung des privaten Heimatwertes.
Lutz Seiler berichtet von der (übertragbaren) Passionsgeschichte seiner Jugend. Heimat, das waren ihm - rein topografisch - die radioaktiven Abraumhalden des ostdeutschen Uranbergbaus, das war der hartnäckige Griff von Staub und Strahlung in die schon vom Staat gepackte eigene Biosphäre. "Abwesenheit, Müdigkeit und Schwere prägten diese Zeit", schreibt Seiler über diesen Herkunftsraum, einen Ort gewissenloser Industrie.
Die geografische Heimat war geschädigt wie die politische, die befohlene. Seilers davon inspirierte und daraus sich speisende Lyrik ist Zeugnis einer nicht wählbaren Existenz und für den Autor "Versuch, mir eine gegenläufige, autarke Bedeutung der Dinge zu konstruieren."
Es ging und geht ihm nicht um Rekonstruktion, sondern um Ergänzung, Revidierung, Ersatz. Und darum, zwischen Mitleben und widerständigen Impulsen eine eigene Einrichtung im gesellschaftlichen System zu finden. Die Derangierung der vorgesetzten Heimat führt(e) Seiler in seinen Gedichten zu ganz eigenen Heimatgesängen: spartanischen, der Überhöhung gänzlich unverdächtigen Vivisektionen.
Anne Duden verweigert sich dem Label Heimat. Sie spricht von Orten. Lebende, schreibt sie unmissverständlich, "ziehen Orte nach sich und Tote". Die eher nach innen gerichtete Betrachtung dessen, was Heimat ist und sein könnte, nähert sich dem Phänomen durch die Hintertür des Zusammentragens von Details, Gedankensplittern, Blickkontakten. Heimat ist für sie Wahlheimat. Nur Orte können Heimat sein, die "nicht wie eine schwere Krankheit" hinter oder auf ihr liegen. Ex negativo formuliert: Heimat ist dort, wo es die wenigsten Toten gibt.
Auch Farhad Showghi weicht dem Definitorischen aus. Wie Dudens Text bleibt sein Essay implizit. "Wie oft muss ich in ein Zimmer gehen, um ein Zimmer zu haben?" Die Frage ist unauflösbar wie jene, wann ein Haufen beginnt (oder aufhört), ein Haufen zu sein. Und dennoch ist ausgesprochen, dass Heimat etwas mit verschiedenen Graden von Benutzung zu tun hat. Die Wahrhaftigkeit steigt mit der Intensität des Gebrauchs.
Für Showghi, der in Prag geboren wurde, seine Jugend in Deutschland und dem Iran verbrachte, konnte Heimat zwangsläufig keine statische Sphäre sein. "Das Alphabet wechselt die Sprache", ist sein Beitrag überschrieben und verweigert sich schon damit den Doktrinen der territorialen Heimatfixierung. Die Heimat liegt in einem toleranten Ich. An einer Stelle heißt es: "ich fuhr, und das war richtig". So kann die Bewegung, kann die eigene Entwicklung(sfähigkeit) als Heimat verstanden werden.
![]() | ||
|
||
![]() |