Greuelmärchen

Band 4 der Heiner Müller-Werkausgabe: Stücke aus den Jahren 1967 bis 1977

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein 1976 geschriebenes Stück "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei" versah Heiner Müller mit dem Untertitel "Ein Greuelmärchen". Greuelmärchen sind aber auch die meisten anderen Stücke, die der vierte Band der Werkausgabe versammelt. Er wird eröffnet mit der Bearbeitung (1967) von Aischylos' "Prometheus", einer antiken Monstertragödie, die mit dem Auftritt der Personifikationen von "Macht" und "Gewalt" beginnt. Macht und Gewalt sind obsessive Themen Müllers - und er lebte diese Obsession in den Stücken dieses Bandes exzessiv aus.

In seinen Lehrstücken "Der Horatier" (1968) und "Mauser" (1970) zum Beispiel: Töten zu müssen im Namen eines besseren Lebens. "Das Gras noch / Müssen wir ausreißen damit es grün bleibt", ist die Formel der Unerbittlichkeit, mit der die Revolution gegen den individuellen Abweichler vorgeht, ja vorgehen muss, wie der Abweichler selbst einsehen soll: "Die Revolution braucht / Dein Ja zu deinem Tod". Unerbittlich der Ton, doch nicht ohne Verständnis für das individuelle Dissidententum in einer Zeit, in der es quälend langsam vorangeht mit der Befreiung des Menschen zum Menschen. Müller hat die Revolutionierung der Gesellschaft zu einer menschenwürdigen stets verstanden als Befreiung der Toten, deren unerlöste Träume die Aufgabe der Lebenden bleiben. Doch die "Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt", lautet ein bitterer Satz aus dem "Traktor"-Kommentar.

Warum es nicht recht vorangehen will, erklärt das Stück "Zement" (1972), das Müller nach einem sowjetischen Aufbauroman von Fjodor Wassiljewitsch Gladkow (1925) schrieb. In der Szene "Die Bauern" erfahren die Bolschewiki, dass die Revolution in Deutschland, die Lenin 1917 als unmittelbar bevorstehend schilderte und die eigentlich die Voraussetzung der Oktoberrevolution war, ausbleiben würde. Sie ahnen, dass sie damit auf verlorenem Posten stehen. Denn "Sozialismus in einem unterentwickelten Land hieß Kolonisierung der eignen Bevölkerung", formulierte Müller später.

Nach dem zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Situation, besonders natürlich in Deutschland, durch das die Nahtstelle der Systeme lief. Die kapitalistische Welt entwickelte eine ökonomische Dynamik, deren Sogwirkung die Führung im Osten durch Einmauerung zu neutralisieren versuchte. Einer von Müller aufgegriffenen These Bernd Böhmels zu Folge handelte es sich dabei um die Übernahme der konterrevolutionären Strategie der Kesselschlacht - d. h. "Abgrenzung nach außen, Kolonisierung nach innen" - durch die sozialistischen Staatsführungen mit dem Ergebnis, dass die Ostblockstaaten zu "gefrorenen Kesseln" wurden, in denen ebenso wenig wie im Westen Geschichte noch stattfand.

Innenansichten aus dem gefrorenen Kessel östlicher Prägung liefern die allerdings noch verhalten optimistischen Stücke "Waldstück" (1968-1969) und "Weiberkomödie" (1969). Sie hatten gegenüber den anderen Stücken des Bands die vergleichsweise geringste Wirkung. Müllers Weltruhm als Dramatiker begründeten eher die hier geballt versammelten Dramen um Deutschland: "Germania Tod in Berlin" (1956-1971), "Die Schlacht" (1951-1974), "Traktor" (1955-1974), "Quadriga" (1975), das schon genannte "Gundling"-Stück und "Ruine der Reichskanzlei" (1977). Mit einer gewissen "Lust an den Trümmerstätten" der Geschichte versammelte Müller hier all die blutigen Protagonisten der Weltgeschichte von den Nibelungen bis Hitler, deren Wirken Europa und besonders Deutschland in ein Schlachtfeld verwandelten, auf dem sich die verzweifelten Opfer eines historischen Größenwahns schließlich selbst zerfleischen und auffressen.

Die Geschichte, die deutsche Geschichte zumal, an der Müller litt wie kein anderer Dramatiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erscheint als fortgesetzte Finsternis, in dem der Traum von einer besseren Welt ("Die roten Fahnen über Rhein und Ruhr [...] / Und keiner will der Kapitalist sein") der ohnmächtige Traum eines sterbenden Maurers bleibt. Die Gewalt der Geschichte hat die Opfer verstummen lassen, das Gesicht des Menschen ist in einem "Nachtstück" betitelten Intermedium aus "Germania Tod in Berlin" "ohne Mund". Doch als die Qual des Gefolterten am größten ist, bricht sich ein Schrei den Weg nach außen. "Der Mund entsteht mit dem Schrei".

Müller hat sich in seinen Greuelmärchen zum Mundstück des geschundenen Menschen machen wollen. Sein "Gesang" sei "der Schrei", schrieb Müller einmal. Diesen Schrei hat er vielstimmig in Szene gesetzt. Seine Deutschlandstücke sind nicht nur Versammlungen von historischen Monstern und ihren Opfern, sondern außerdem monströse Zitatcollagen der Weltliteratur. In der Überdosis, die dieser Band davon bietet, sehnt man sich gelegentlich nach der Lakonie des Müller'schen Frühwerks oder der 'einfachen' Handlung einer Shakespeare'schen Tragödie wie etwa "Macbeth", dessen extrem zurückhaltende Bearbeitung (1971) der vorliegende Band auch enthält.

In einem Kommentar (1974) zu seinem Fragment "Traktor" (1955-1961) träumt Müller von der "Austreibung des Lesers aus dem Text". Diesem Programm fühlte er sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zunehmend verpflichtet (die "Schutthalde der Literatur im Rücken"). Ohne Rücksicht auf seine Leser geht Müller seinen Obsessionen nach, und gelegentlich fragt man sich, ob er - dessen Pathos zwar niemals die Grenze des Lächerlichen überschreitet - sich nicht doch mitunter bis in Gefilde des Kitsches verirrt hat.

Dies betrifft vor allem solche Szenen, wo als Gegenbild des "Europas in Ruinen" ein "Europa der Frau" beschworen wird. Auf die Spitze getrieben wird dies in "Hamletmaschine" (1977). Dort tritt eine Ophelia auf, die sich aus den grauenhaften Zerstörungen der Männerwelt ihrerseits mit einem Gewaltakt zu befreien gedenkt: "Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich zertrümmre die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reiße die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich gehe auf die Straße gekleidet in mein Blut."

Zwar wird Ophelia am Ende von zwei Männern in Arztkitteln von unten nach oben in Mullbinden geschnürt und so erneut mundtot gemacht, doch nach ihrem letzten Aufruf zum Widerstand ("Es lebe der Haß, die Verachtung, der Aufstand, der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen") gehen die "Männer ab" und Ophelia "bleibt auf der Bühne", reglos zwar "in der weißen Verpackung" - aber wie lange noch? Es wirft ein interessantes Licht auf die Mentalität der 70er Jahren, dass Müller mit solchen Visionen zu einem Weltstar des Theaters wurde. Einige ernüchterte Jahrzehnte später muss sich zeigen, wie haltbar diese Theatervisionen sind.

Dass besonders die alptraumartig verzerrten und manchmal etwas gesucht obszön wirken wollenden Stücke nach wie vor zu Lieblingstexten der Theatermacher zählen, hat im Wesentlichen wohl mit ihrer eminenten Körperlichkeit zu tun. Es sind Stücke, die sich fort von der rhetorischen Schärfe der frühen Dramen und Lehrstücke hin zu einem Theater von "Leichenteilen" bewegen, die ihr eigenes Leben in den Trümmerhaufen der Geschichte führen. Das ist ungeheuer theatralisch - im doppelten Wortsinn. Einen Monat vor seinem Tod hat Müller unter der Überschrift "Drama" noch einmal über den Reiz dieser anderen Wirklichkeit auf der Bühne sinniert: "Die Toten warten auf der Gegenschräge / Manchmal halten sie eine Hand ins Licht / Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehn / In ihr gewohntes Dunkel das uns blendet".

Titelbild

Heiner Müller: Die Stücke 2. Werke. Band 4.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
594 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3518408968

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