Das Ende der Wehrpflicht

Ute Frevert über Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland

Von Klaus-Peter MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem Buch über die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland greift Ute Frevert ein brisantes Thema auf. Seit den dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen in den Ländern des Warschauer Vetrages zu Beginn der 1990er Jahre, die auch eine Veränderung der militärischen Situation nach sich zogen, wird in Deutschland erneut eine intensive Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht und die Aufstellung einer Berufsarmee geführt. Mit den Einsätzen auf dem Balkan und am Hindukusch übernimmt die Bundeswehr eine neue Rolle, ein Prozess, der von heftigen politischen Auseinandersetzungen begleitet wird. Das gesellschaftliche Bild des Militärs ist umstritten wie vielleicht nie zuvor. Immer wieder geht es um die Frage, welche Militärverfassung sich die Bundesrepublik zukünftig geben soll. Es gibt eine Menge Gründe für und wider die Wehrpflicht. Wehrpflichtige kann man nicht so ohne weiteres zu Auslandseinsätzen schicken, Kostenfaktoren spielen eine Rolle, das Durchpumpen subversiver Elemente durch den Durchlauferhitzer Wehrpflichtigen-Armee hat auch einen gewissen Reinigungseffekt und Demonstrationswert für die Gesellschaft.

In einer solchen Situation muss ein Buch, in dem das Wissen über die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland zusammengefasst wird, als Entscheidungs- und als Argumentationshilfe willkommen sein, wenn es ihm gelingt, der Diskussion neue Aspekte abzugewinnen, ihr neues Material zuzuführen, die bekannten Fakten in neue Zusammenhänge einzuordnen. Diese Leistungen erbringt das Buch von Frevert ohne Zweifel. "Die kasernierte Nation" ist ein gut geschriebenes, eigenwilliges, materialreiches Buch, das die Autorin zu Recht neben die bereits vorhandenen Bücher zu dem Thema, es ist fast schon eine kleine Bibliothek, stellt. Ein Vergleich mit diesen Schriften - Tagungsbänden, Materialsammlungen, Positionspapieren verschiedenster Coleur - macht die Besonderheiten deutlich, die das Buch von Frevert auszeichnen: die Materialfülle, die Sensibilität, mit der die Autorin soziologischen Fragestellungen nachgeht, ihre besondere Perspektive als Forscherin über Gender-Verhältnisse und als Spezialistin des 19. Jahrhunderts. Während Militärgeschichte sonst die Entwicklung militärischer Strukturen, der Kriegswissenschaft, der Militärtechnik, allenfalls noch des Standes der Berufssoldaten untersucht, fokussiert Frevert den Blick auf die Betroffenen, Männer und Frauen, und gelangt dabei an vielen Stellen zu überzeugenden, anregenden oder doch diskutablen Einsichten.

Seine besondere Optik gewinnt ihr Buch dadurch, dass hier das Thema Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland unter den Gesichtspunkten, die Autorin spricht von "Fluchtpunkten", "Wehrpflicht und politischer Bürgerstatus", "Wehrpflicht und gesellschaftliche Nationsbildung" und "Wehrpflicht und Geschlechterverhältnis" dargestellt wird. Das ist als Ansatz nicht mehr ganz neu, deutet sich vielmehr in früheren Arbeiten der Autorin bereits an, etwa in den Referaten, die sie zu dem 1997 erschienenen Sammelband "Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert" beigesteuert hat, in ihren Arbeiten über Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, über Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder. Vielleicht ist es gerade dieser "weibliche Blick" auf Geschichte, der der Autorin ihre besonderen Einsichten ermöglicht. Dass sie nicht jedes Problem, das sich im Zusammenhang mit ihren "Fluchtpunkten" stellt, erschöpfend behandeln konnte, ist nicht nur eine Frage der Geduld, die der Autorin, wie sie selbst mehrfach beteuert, am Ende mangelte, es ist auch eine Frage der Dimensionen der gestellten Aufgabe.

Die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland wird im vorliegenden Buch als dramatischer Vorgang beschrieben - von der Herausbildung dieser "Institution" unter den Auspizien der preußischen Reformen nach der Niederlage von Jena und Auerstedt über die Debatten während des Vormärz' und der Revolution von 1848, die Konsolidierungsphase des preußischen Modells der Wehrverfassung während der Reichseinigungskriege bis hin zur Kulmination in der wilhelminischen Zeit und seinem Niedergang im 20. Jahrhundert. Was die Autorin dazu an Material heranzieht, ist beeindruckend. Allerdings stützt sich die Darstellung hauptsächlich auf Quellen aus dem 19. Jahrhundert, während entsprechende Beispiele aus dem 20. Jahrhundert fehlen. Schon bei einem rein quantitativen Vergleich des Raumes, den die einzelnen historischen Abschnitte in dem Buch einnehmen, fällt diese Disproportion auf. Der Band, der sich durch seine noble Ausstattung und typographische Gediegenheit empfiehlt, umfasst insgesamt 458 Seiten, 100 Seiten davon sind dem ausführlichen Anhang eingeräumt. Während das 20. Jahrhundert in einem einzigen Kapitel von 50 Seiten abgetan wird, bleibt der Löwenanteil von über 300 Seiten der ausführlichen Darstellung des 19. Jahrhunderts vorbehalten. Da aus diesem Zeitraum kaum Quellen ausgewertet wurden, bleibt das 5. Kapitel, das Institutionen wie die Reichswehr, die Wehrmacht, die NVA und die Bundeswehr umfasst, plakativ. Das ist bedauerlich, denn die Geschichte des 20. Jahrhunderts eignete sich besonders, Schlagworte wie das von der Wehrpflicht als dem "legitimen Kind der Demokratie", vom Soldaten als dem "Bürger in Uniform" oder von der Armee als "Schule der Nation" ad absurdum zu führen. Die allgemeine Wehrpflicht ist kein Kind mehr, sie ist erwachsen geworden, spätestens 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich ein Heer von Wehrpflichtigen für jede politische Zielsetzung missbrauchen lässt, dass die allgemeine Wehrpflicht kein Garant für Demokratie ist und dass der Erlass eines Wehrpflichtgesetzes nichts anderes ist als die effektivste und billigste Methode zur Bereitstellung von "Menschenmaterial" für das Heer, das zur disponiblen Masse entwertet wird und nach Belieben "verheizt" werden kann. Diese These von John Frederick Charles Fuller spielt im Buch von Frevert keine Rolle.

Wenn auch die Urteile der Autorin an vielen Stellen überzeugen, kann ich ihr doch nicht in jedem Punkt folgen. Ansatzpunkt für meine Zweifel war meist ein Unbehagen gewissen Schlagwörtern oder generalisierten Sichtweisen gegenüber. Der Wehrdienst ist natürlich ein massiver Eingriff des Staates in die Grundrechte des Bürgers, empfindlich wird dieser jedoch vor allem durch die Art und Weise, in der die Wehrpflichtigen dieser Pflicht unterworfen werden. Womöglich hängen Kritik und Unlust am Wehrdienst weniger mit den Belastungen zusammen, die den Soldaten per Gesetz aufgebürdet wurden, als mit der Kommissmäßigkeit des Militärs, mit dem Kasernenhofton, der sich seit dem 19. Jahrhundert trotz aller Metamorphosen der Armee bis heute fortgeerbt hat, mit den Zumutungen des Militärdienstes: der Entpersönlichung des Einzelnen, seiner Instrumentalisierung, der gewaltsamen Einordnung in starre, nicht auf Leistung basierende Hierarchien, der ständigen Konfrontation mit zynischen, menschenverachtenden Anschauungen. Wie sagte der "Spieß" so schön, wenn jemand Widerspruch gegen einen unsinnigen Befehl anmeldet: "Diskutieren Sie nicht!" Kann man sich eine Armee vorstellen, in der es anders ist? Dass Wehrpflichtige zu allen Zeiten subversive Haltungen gegen den Militärdienst entwickeln, ist mithin wohl eine Gesetzmäßigkeit. Selbst wo statistische Zahlen dagegen sprechen, muss man sie vermuten. Andererseits lässt sich auch ein affirmatives Verhalten beobachten, das sich in freiwilliger Unterwerfung äußert. Die Frage, was Männer eigentlich dazu antreibt, hat Ute Frevert überzeugend beantwortet. Liest man ihr Buch, sieht man, dass die Diskussionen, die heute wieder geführt werden, die Geschichte der Wehrpflicht von Anfang an begleiten. Das Plädoyer der Autorin fällt eindeutig gegen dieses Modell der Wehrverfassung aus, dessen Schwächen und Fehler sie klar herausarbeitet.

Titelbild

Ute Frevert: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
458 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3406479790

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