Feminismus und soziale Gerechtigkeit

Ein "Kompass für Politik und ihre Wissenschaft"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Rouven Obst
Während Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Gleichberechtigungsdiskurs bewusst an die Standortdebatte koppelt, stellt Gabriele Sturm, Hochschuldozentin am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg, fest, dass Gleichberechtigung nur mit veränderter Gesellschaftsformation einhergeht. Welchen Weg wollen wir wählen?

LeserInnen des selbsternannten Kompass für feministische Politik und Politikwissenschaft sollten keine eindeutige Wegweisung erwarten. Hingegen bieten die Beiträge verschiedene Ansätze der produktiven Dekonstruktion und konstruktiven Reformation von Institutionen und sozialem Engagement.

Wo sich in der Politik der rot-grünen Regierung die zitierte Ökonomisierung von Gerechtigkeitsfragen vollzieht, bezeugt der Sammelband eine Fortführung des kritischen Projekts. Die Strategie der Denaturalisierung (Gabriele Sturm) widerspricht der Auffassung, dass die Wirtschaft natürlich ein ureigenstes Interesse an Gleichstellung hat (Christine Bergmann). Dieses Interesse wird sie nur entwickeln, wenn ein entsprechender öffentlicher Druck erzeugt wird. In diesem Sinne erörtern die Autorinnen Strategien der Geschlechter-Gerechtigkeit.

So plädiert Ayla Satilmis in ihrem vorangestellten Beitrag trotz katastrophaler Unterfinanzierung der Hochschulen und einem erstarkenden neoliberalen Diskurs für einen fortgesetzten Kampf der Frauen: für Umverteilung und Neugliederung der noch vorhandenen Mittel und Strukturen. Ein anderes Beispiel ist die Denaturalisierung der Geschlechter durch Kooperationsarbeit von organisierten Frauen mit öffentlichen Institutionen (Politik, Justiz, Polizei und Ämter), von der Heidi Wedel berichtet.

Insgesamt umfasst der Band neun Beiträge von renommierten Wissenschaftlerinnen und einer Bundestagsabgeordneten, geordnet in drei Themenkomplexe: erstens Positionen der sich etablierenden Politikwissenschaft (Ingrid Kurz-Scherf, Birgit Sauer, Gabriele Sturm), zweitens feministische Politikpraxis (Sabine Berghahn, Christina Schenk) und drittens Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Feminismus (Ingrid Langer, Barbara Kavemann und Heidi Wedel).

Eine der Stärken der gesammelten Beiträge liegt in der Analyse der feministischen Belange vor dem Hintergrund des Umbruchs zur dritten Moderne (Richard Münch). So bietet der Sammelband hervorragende und überzeugende Untersuchungen zur Geschlechtsblindheit der Politikwissenschaft und ihrer Begriffe bei Birgit Sauer, zu wissenschaftlichen Grundkategorien der Moderne bei Gabriele Sturm, zur rechtlichen Gleichstellung bei Sabine Berghahn und zu gleichberechtigten Lebensweisen bei Christina Schenk. Außerdem finden sich fundierte historische Darstellungen zur Disziplin der feministischen Politikwissenschaft von Ingrid Kurz-Scherf, zum Abtreibungsrecht von Ingrid Langer, zu Identitätsbewegungen und Geschlecht in der Türkei von Heidi Wedel und zur Problematik der strukturellen (Männer-)Gewalt und ihrer Begegnung durch Frauenhäuser und Kooperationsbündnisse von Barbara Kavemann.

Diese Breite bedeutet profunde Einführung in Theorie und Praxis als auch hochaktuelle wissenschaftliche Öffentlichkeit. Das Projekt der Dekonstruktion von "naturalisierten" politischen Kategorien wie Natur, Politik, Privates und Ökonomie wird in den Beiträgen überzeugend vorangetrieben. Diesem Schritt in Richtung soziale Gerechtigkeit folgt, dass so manches an politischer Rhetorik in Zeiten der "selffulfilling prophecy" Globalisierung zu Grabe getragen werden kann, oder neu bedacht und bewertet werden muss: Dank dem Feminismus und diesem Buch.

Titelbild

Ayla Satilmis / Telse Jacobs: Feministischer Eigensinn. Kompass für Politik und ihre Wissenschaft.
Argument Verlag, Hamburg 2001.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3886192830

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