Ein erster Schritt, aber auch nicht mehr

Eine Literaturzeitschrift über Durs Grünbein

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeitschrift Text+Kritik widmet ihre Ausgabe Nr. 153 dem Schaffen des Lyrikers und Essayisten Durs Grünbein. Sie wird eingeleitet von einem bis dahin unveröffentlichten Gedicht Grünbeins mit dem Titel "Arkadien für alle"; mittlerweile ist es auch in dessen neuem Werk "Erklärte Nacht" zu finden. Der Kölner Privatdozent und Leiter des Referats ,Literatur' in der Konrad-Adenauer-Stiftung, Michael Braun, der bereits etliche Rezensionen zu Grünbeins Schaffen vorgelegt hat, eröffnet schließlich die literaturwissenschaftliche Diskussion mit einem allgemeinen Aufsatz zu Grünbeins Lyrik und Poetik des Fragments. Argumentativ stützt Braun sich vor allem auf zwei Aufsätze des Autors, "Ameisenhafte Größe" und "Mein babylonisches Hirn", die beide zu Beginn und Mitte der 90er Jahre entstanden, sowie auf die Analyse des Gedichtzyklus "Nach den Fragmenten", das bereits Ende der 80er Jahre entstand und Mitte der 90er in veränderter Fassung erschien. Die Erörterung ist in sich schlüssig, und insbesondere die Untersuchung des Zyklus bringt einige fruchtbare Erkenntnisse, die Konzentration auf das Fragment allerdings scheint mir zu eindimensional und affirmativ. Einerseits versäumt es Braun, dessen Essay seiner Habilitationsschrift zum literarischen Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan entnommen ist, auf Alexa Hennemanns Studie "Die Zerbrechlichkeit der Körper" einzugehen; auch in der abschließenden Auswahlbibliographie, die viel Abseitiges, vor allem das geballte Feuilleton, anführt, fehlt dieser literaturwissenschaftliche Titel. Hennemann vergleicht die Büchner-Preis-Reden von Heiner Müller und Durs Grünbein. Dabei widmet sie ein ganzes Kapitel der Poetik des Fragments, in dem sie den Fragmentbegriff Grünbeins mit der beim Dichter so eminent wichtigen Körperlichkeit und der Romantik in Beziehung setzt. Dadurch kann Hennemann den bei Grünbein zentralen Begriffen der "biologischen Poesie" bzw. der "Neuro-Romantik", die Braun ebenfalls zitiert, mehr an Bedeutung abgewinnen. Andererseits kann Brauns Fokus auf das Fragment selbst in Zweifel gezogen werden. Wenn etwa bezüglich der Form von einer "zersprengten Ode" die Rede ist, in deren Fortgang es "unmöglich" scheint, "den Text als Ganzes zu verstehen", so ist das zweifelsohne in diesem Fall richtig. Dennoch lässt diese Beobachtung außer Acht, dass Grünbein z. B. in seinem Werk "Nach den Satiren" einen ganzen Zyklus formvollendeter Sonette präsentiert, der weit weniger hermetisch ist. Der Begriff einer "Poetik des Fragments" greift in dieser Hinsicht zu kurz.

In einem sehr konzisen Aufsatz setzt sich Hermann Korte, der Grünbeins Œuvre bereits für das renommierte "Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" dargestellt hat, mit dem Konnex von Poesie und Wissen in "Nach den Satiren" auseinander. Präzis arbeitet Korte eine "exzeptionelle, hochsensible" Ich-Figur dieser Gedichtsammlung heraus, die in ihrer Ambivalenz durch großes handwerklich-poetisches, historisches Wissen mühelos "stoische Posen, römische Kostümierungen und mondäne Kritikerrollen" auf sich vereinigen kann, diese elitäre Maskerade aber manchmal "bis zur Attitüde, bis zur Selbstparodie" treibt. Korte spricht diesbezüglich von "Preziosen kunsthandwerklicher Lyrik" oder "sentimentaler Moralität" und ortet "überpointierte Analogien und zwanghaft gesuchte Parallelen".

Des Weiteren erfährt Grünbeins Lyrik eine Huldigung des Mediziners Roman Fischer, der die Faszination des Arztes für dessen Herangehensweise und Sujetauswahl prägnant beschreibt. Neben einer knappen Abhandlung über Grünbeins Arbeiten für das Theater und einer sorgfältigen Betrachtung von "Grünbeins Dante", die eine "Dynamik wechselseitiger Erhellung zwischen poetischer Praxis und theoretischer Selbstvergewisserung" beispielhaft belegt, findet sich außerdem ein kenntnisreicher Beitrag von Manfred Fuhrmann, dem Grünbein übrigens ein Gedicht in "Erklärte Nacht" zueignet. Fuhrmann umreißt darin die Rezeption Juvenals bei Grünbein, die er mit der des Franzosen Auguste Barbier, der im 19. Jahrhundert lebte, vergleicht. Begleitet werden die literaturwissenschaftlichen Ausführungen von diversen Texten des Dichters. Neben dem anfangs schon erwähnten Gedicht gibt Grünbein in einer Szene des noch unfertigen Stückes "Lemuren" Einblick in sein dramatisches Schaffen, was spannend und aufschlussreich zugleich ist, da der Autor für das Theater bislang nur durch Übersetzungen anderer Dichter wie Seneca und Aischylos auf sich aufmerksam machte. Außerdem, praktisch daran anknüpfend, begründet er in einem Kurzessay seine Vorliebe für die antike Literatur. Den Abschluss bildet dann ein Gespräch zwischen Grünbein und Helmut Böttiger, das in leicht veränderter Fassung auch schon im Tagesspiegel zu lesen war, wo Böttiger als Literaturredakteur tätig ist. Insgesamt muss man festhalten, dass der Text+Kritik-Band als erster Schritt angesehen werden kann, Grünbeins Werk einem literaturwissenschaftlich interessierten Publikum nahe zu bringen. Dennoch bleibt es enttäuschend, wie wenig die Literaturwissenschaft offensichtlich beizutragen gewillt war. Vier Beiträge - allesamt lesenswert werden vom besprochenen Autor selbst beigesteuert, so dass quantitativ zumindest die üblichen 90 Seiten erreicht werden. Auf einige inhaltliche Mängel des Bändchens, insbesondere was den möglichen Forschungsstand betrifft, wurde bereits hingewiesen. Dass eine der wenigen längeren, literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Werk Grünbeins übersehen wurde, sich in der Bibliographie dafür Titel aus den Nürnberger oder den Luzerner Neusten Nachrichten finden, spricht nicht für die Sorgfalt der Redaktion.

Titelbild

Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Durs Grünbein. Text + Kritik, Bd. 153.
edition text & kritik, München 2002.
93 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 388377703X

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