Der Flaneur und der Terror

Ein Metropolentext von Ulrich Peltzer

Von Eva LeipprandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Leipprand

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man über New York noch unbefangen schreiben, nach dem 11. September? Auf jeden Fall kann man über New York zur Zeit nichts unbefangen lesen. "Häuser, Teil der Welt des Menschen inmitten einer Welt der Dinge, einer anderen, gewaltigeren Ordnung, deren Dimensionen so erstaunlich sind wie die eines bizarren Naturgebildes, mit ihren vor- und zurückspringenden, schnurgerade aufschießenden Kanten, zwischen denen sich riesenhafte, gänzlich verschattete Abrisse auftun, ihren Aufbauten in der Höhe, die Stufen bilden wie babylonische Zikkurats, sich übereinander türmende, rechteckige Formen in den Himmel schneidende Klötze; als ob man kein Ende gefunden hätte beim Bauen, oder keines finden wollte, jene obere Grenze, jenes Stockwerk, nach dem einmal Schluss gewesen wäre". Wer kann das lesen, ohne an die längst archetypisch aufgeladenen Bilder der brennenden Skyline von Manhattan zu denken und an den Sog, den diese babylonischen Türme auf die Phantasie der Terroristen ausgeübt haben müssen? Und wenn dann noch von Polizeisirenen und Ambulanzfahrzeugen die Rede ist, von einem Unglück, wo der Zusammenbruch von Gebäuden droht, wo Gestänge "schräg in der Luft" hängt und ein Krater im Fernsehen gezeigt wird, "ein ausgefranstes Loch mit zerfetzten Armierungseisen", dann will man kaum glauben, dass Ulrich Peltzer die ersten vier Fünftel seiner Erzählung "Bryant Park" vor dem die Welt - und insbesondere New York - verändernden Ereignis geschrieben hat.

So liest sich die Erzählung von Anfang an wie im Zwielicht, was vielleicht nicht beabsichtigt, aber durchaus reizvoll ist. Eigentlich hat Peltzer einen klassischen Metropolentext geschrieben. Einen Nachmittag und einen Abend lang flaniert der Erzähler durch die Stadt und beobachtet: die Serviererin im Café, die roten Saucen im Diner, die so schwer aus der Flasche zu drücken sind, das lokale Fernsehprogramm mit dem Wechsel von Nachricht und Werbung, den Verkehr in den Straßen, die Vorführung eines Open-Air-Films in Bryant Park. Das Unterwegssein ist die adäquate Lebensform, er möchte "nie mehr aufhören zu gehen".

Der Erzähler ist deutscher Autor und Stipendiat, der unbedingt im teuren East Village wohnen muss, um den Anspruch, Künstler zu sein, zu unterstreichen. In der Public Library durchsucht er "auf Microfiches gespeicherte Taufregister neuenglischer Gemeinden" nach Spuren der Familiengeschichte, die angeblich bis in den Mayflower-Siedleradel zurückreicht. Er ist nach New York gekommen nicht nur der Liebe wegen, sondern "um Ballast abzuwerfen, loszuwerden die an jeder Ecke lauernden Bilder einer Vergangenheit, sich neu zu erfinden", eine Erwartung, die schon viele andere nach New York getrieben hat und ihre Widersprüchlichkeit auch hier offenbart, so dass sich der Erzähler am Ende selbst zur Ordnung ruft: "keine Vorwände mehr." Er möchte sich eben doch gern, und sei es gegen die eigenen ästhetischen Prinzipien, als Glied einer genealogischen Kette sehen, möchte Zusammenhänge, das "Eigentliche" hinter dem Schleier erkennen, möchte aus den flanierend wahrgenommenen Bruchstücken durch Logik und Interpretation ein Bild herstellen, das nicht einfach ein Ergebnis des Zufalls ist; und dies alles dann, "die Geschichte, das Leben", in Schrift verwandeln, "bis zurück an den Anfang".

Ulrich Peltzer hat in seinen bisherigen Arbeiten, für die er 2000 den Preis der SWR-Bestenliste und 2001 den Niederrheinischen Literaturpreis erhielt, eine Ästhetik der Genauigkeit entwickelt, die auch hier wieder beeindruckt. Dabei ist seine Sprache nicht das, was Rezensenten gemeinhin "sinnlich" nennen. Da ist eine intellektuelle, reflektierende Brechung; die auffallend häufige Verwendug des Partizip Präsens (vielleicht ein Tribut ans Angelsächsische) wirkt sehr bewusst, fast artifiziell. Der Erzähler zieht sich hinter ein unpersönliches "man" zurück. Gebrochen ist der Text auch im Schriftbild. Kursiv schiebt sich eine zweite und eine dritte Erzählebene ein, Bruchstücke einer Drogengeschichte und der Krebstod des Vaters "als sich kreuzende Spuren". So erklärt die Erzählung ihre eigene Konstruktion, "aus einer bestimmten Vergangenheit und einer bestimmten Gegenwart, im Kopf herumvagabundierenes Material, Fetzen von Bildern, Empfindungen; was sich abspielt während eines Nachmittags und Abends zwischen Public Library und East Village". So wird das Erzähler-"man" dann doch als "Ich" greifbar, gerade in der Splitterhaftigkeit des Eingefügten: was hier aus der Erinnerung auftaucht, oft über assoziative Schnittstellen, leuchtet in den Konturen, hat eine besondere Intensität.

Bis dann auf einmal, als man schon die Unglücksbilder des Anfangs als Statthalter sozusagen für die viel größere, jedermann bekannte und doch nicht in Worte zu fassende Katastrophe hingenommen hat, doch der 11. September ganz konkret in die Erzählung einbricht und sie für mehrere Seiten bestimmt, auf eine merkwürdig inadäquate Weise, vielleicht um die Erkenntnis zu belegen: "das ist zu groß, was hier passiert ist". Der Terroranschlag wird aber nur als eine Unterbrechung behandelt, "wie man beim Lesen eine Seite verschlägt", nach der das ursprüngliche Konzept wie vorgesehen zu Ende geführt wird. Es ist aber nicht mehr dasselbe. In der Erzählung bleibt ein Bruch; ein Problem, das der Autor dem Leser überläßt.

Titelbild

Ulrich Peltzer: Bryant Park. Erzählung.
Ammann Verlag, Zürich 2002.
158 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3250600350

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