Sprachen sind wie Katzen
Nur knapp entgeht Robert Alter der Sakralisierung von Benjamin, Kafka und Scholem
Von Jan Müller
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"The insider as outsider": So umschrieb Peter Gay die Stellung der Intellektuellen in der Weimarer Republik. Der amerikanische Hebräist und Literaturwissenschaftler Robert Alter unternimmt mit einer Studie über die Folie jüdischer Tradition den Versuch, drei dieser "outsider" als Außenseiter und Eingeweihte im doppelten Sinne zu bestimmen. Kafka, Benjamin und Scholem standen in der Gesellschaft der 20er Jahre auch und gerade aufgrund ihrer jüdischen Herkunft abseits. Die Traditionen dieser Herkunft bewirken wiederum das integrierende Moment, das die perspektivische Betrachtung der drei "Modernisten", wie Alter nicht müde wird zu betonen, erst ermöglicht. Die gemeinsamen Interessen aller drei für Alphabete und den materialen Schreibvorgang, für Texte und Textualität als Medium der Wahrheit und nicht zuletzt eine "Begeisterung für Engelbilder" bilde den Ausgangspunkt für die "Einsicht, dass der Dialog zwischen Kafka, Benjamin und Scholem Werkdimensionen eines jeden ans Licht brachte, die bei der getrennten Einzeluntersuchung nicht aufschienen." Das metaphorische Aufscheinen bezeichnet den methodischen Unterschied zu ähnlichen Studien, wie dem "Engel der Geschichte" von Stéphane Mosès. Das behutsame Aufspüren vergessener Tradition macht den Reiz, aber auch die Angreifbarkeit von Alters Bemühungen aus.
Franz Kafkas Person und Werk tauchen zunächst nur vermittelt auf. Die briefliche Diskussion, die Benjamin und Scholem durch die 30er Jahre hindurch über Kafka führten, offenbart zugleich die jüdischen Bezüge bei Kafka selbst, wie auch die Unterschiede in der Interpretation der beiden Exegeten. In Auseinandersetzung mit den Offenbarungsmotiven seines Werks betrachtete Benjamin Kafka als "Schöpfer von Haggada (Überlieferung) ohne Halacha (Gesetz)", wohingegen Scholem seine Sympathie eher einem häretischen Kabbalisten schenkte.
Die Unterschiede der drei aus assimiliertem jüdischem Elternhaus stammenden Dichter, Kritiker und Historiker macht Alter in der Konfrontation ihrer Werke mit dem Œuvre Samuel Josef Agnons deutlich. Die unterschiedliche Kenntnis des Hebräischen bestimme den jeweiligen Bezug zur Überlieferung der Tradition. Wo sich Kafka in den letzten Lebensjahren der Relation von Text, Sprache und Offenbarung durch das Studium der Sprache der Vorväter genähert habe, ohne aber die Skepsis vor ihren Verheißungen, wie sie aus den absurden Situationen seiner Fiktionen spreche, ganz ablegen zu können, sei Scholem durch seine hervorragenden Hebräischkentnisse schon früh in die kabbalistischen Tiefendimensionen der Überlieferung hinabgestiegen. Beiden gemeinsam sei die Erkenntnis von der notwendigen Gratwanderung "zwischen Nihilismus und Religion". Kafka stand jenseits des Grats, Scholem diesseits.
Nur Benjamin und seine oft geplanten, aber nie realisierten Hebräischstudien fallen für Alter aus dem Schema heraus. Ihm sei die Rückbindung an die Erfahrungen der Tradition nie recht geglückt. Das liegt aber, wie mir scheint, nicht nur an Benjamins "Unkenntnis des Hebräischen", sondern auch an Alters Unkenntnis der Philosophie Benjamins. Wo immer die Bezugnahme auf die nichtjüdischen Quellen in Benjamins Werk zwingend nötig ist, wird Alter unsouverän. Benjamins Sprachtheorie, die zugegeben schon Gegenstand der absurdesten Spekulationen wurde, erscheint ihm so "als die beschwörende, inkohärente Extravaganz einer lyrisch-literarischen, von mystischen Ideen beseelten Phantasie". Philosophie ist erklärtermaßen nicht Alters Gegenstand; Benjamin ist ihm stets "Kritiker", und nicht Philosoph. Das ist an sich nicht schlimm. Schlimm ist aber, dass seine Studie darunter leidet. Alter selbst verdeutlicht, es gehe ihm "nicht darum, Benjamin zu psychoanalysieren", nur um es im Anschluss doch zu versuchen. Benjamins "Angst vor dem Hebräischen", der er durch seine Philosophie nicht beigekommen sei, findet so ihre Aufhebung erst in Träumen während der Lagerhaft. Das überzeugt nicht, zumal es in die Praxis, biographische Aussagen als Erfahrungsexemplare einer ganzen Epoche zu lesen, einen unschönen Bruch reißt.
Im Juni 1921 erklärte Kafka seinem Freund Max Brod das Dilemma jüdischer Schriftsteller: "Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben." Das Anschreiben gegen diese absurde Situation kennzeichnet das Werk Kafkas, Benjamins und Scholems. Die Auseinandersetzung mit dem Doppelcharakter der Sprache der Offenbarung, ihrem Wahrheitsanspruch und ihrer geschichtlichen Relativität, zeigt sich Alter in der spezifischen Konstellation seiner drei behandelten "outsider". Mit dem Zeigen ist es aber nicht getan. Für Alter "glimmt etwas vom Reich der Transzendenz, das die Tradition so nachdrücklich visierte und das hoffentlich Bestand hat", in der Beschäftigung mit den "notwendigen Engeln" auf. Alters Studie ist keine regelrechte Studie, sondern eher ein Manifest für die Notwendigkeit, im Umgang mit Kafka, Benjamin und Scholem an die Tradition, aus der sie schöpften, zu erinnern und vor allem: sie zu reaktualisieren.
Alters Essay glänzt nicht durch neue Materialien zu den behandelten Autoren; zitiert wird gar nach der mittlerweile fragwürdig gewordenen zweibändigen Briefausgabe von 1966. Der Versuch trägt aber in der ansonsten ausgezeichneten Übersetzung, die sogar einige Unklarheiten der amerikanischen Ausgabe bereinigt, den sympathischen Ton amerikanischer Diskussion in die deutschen Auseinandersetzungen. Dem Benjaminschen Diktum, dass Erkenntnis stets Interpretation sein müsse, trägt Alter Rechnung, auch wenn gerade seine Benjamin-Deutung Widerspruch erregt. Wichtig ist vor allem die spezifisch jüdische Perspektive. Sie ist im deutschen Diskurs erstaunlich selten und sollte eine lang überfällige Verunsicherung der Schulwissenschaften nach sich ziehen, die in weiten Teilen immer noch bemüht ist, ihre Gegenstände zwar als "moderne" zu legitimieren, den Bereich der jüdischen Tradition dabei aber ausblenden. Nur so lassen sich die von Alter zu Recht kritisierten Versuche, Kafka, Scholem und vor allem Benjamin als "postmoderne Propheten" zu installieren, begründet zurückweisen.
Hierzu bietet Alter nur einen lesenswerten Anstoß, der auf notwendige Sichtweisen hinweist. Die Rekonstruktion "unsinnlicher Ähnlichkeiten" nimmt er für sich nicht in Anspruch, sondern bleibt mit Yehuda Amichai bei der Akzentuierung der nicht bloß graphischen Differenz zwischen hebräischer und lateinischer Sprache stehen: "Sprachen sind wie Katzen; / Man darf sie nicht gegen den Strich bürsten." Eine Vermittlung beider Perspektiven verhindert leider gerade seine eskapistische Deutung von Benjamins philosophischen Bemühungen. Hier steht sich Alters Anspruch in demselben Weg, den er dem Leser zu erst weist. Um Vermittlung herzustellen, bedarf es der eingehenden Reflexion auf die dezidiert jüdische Tradition auch unseres Diskussionskontexts. Erst dieser Rekurs offenbart einen Ausweg aus den Aporien der modernen Subjektphilosophie, wie sie die ihr verpflichteten postmodernen Theoretiker potenziert offenbar machten. Dazu reicht es freilich nicht, bloß biographisch vorzugehen. Der Apellcharakter von Alters Ausführungen fordert, beide Katzen zu streicheln. Mit der vorliegenden Interpretation von Kafka, Benjamin und Scholem lässt sich dafür bei allen Vorbehalten ein Ausgangspunkt formulieren, der gleichwohl über den zu oft auf Einfühlung angewiesenen Text hinausgeht. Deshalb ist die Ergänzung doppelt nötig, damit Alters Buch, wie der Übersetzer im Vorwort fordert, "notwendig im Sinne seines Titels" werde, aber auch, damit die behandelten drei modernen "Engel" in ihrer ganzen Unentbehrlichkeit lesbar werden. Andernfalls gerät Alters Studie zu einer Konservierung der Außenseiterperspektive, die zu Lasten der Erkenntnis gehen muss, wie wertvoll Kafka, Benjamin und Scholem als "insider" moderner Geistesgeschichte für unsere aktuellen Bemühungen sind.