Der Sommer des Tausendfüßlers
Nicola Barkers neuer Roman "Nadeln im Ohr"
Von André Schwarz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie 16-jährige Medve, "der einzig aktenkundige Riese" in der Familie, steckt mitten in der Pubertät. Und als ob das noch nicht genug wäre, muss sie diese auch noch in einem heruntergekommenen Art-déco-Hotel an der Südküste Devons verbringen, zusammen mit ihrer 12-jährigen Schwester Patch, dick, intrigant und unglaublich altklug, sowie ihrem kleinen Bruder Feely, Hobby-Naturwissenschaftler und etwas morbide. Ihr Vater, einen Meter zweiundvierzig groß, ein "Zahnstocher mit Ellbogen", von den Kindern ironisch "Big" genannt, ist Landschaftsgärtner und soll das Hotel bis zum Verkauf vor dem völligen Verfall bewahren.
So bewegt sich das Leben von Medve - "kein altenglisches Wort für Fluß oder Hure", sondern ungarisch für "Bär" - zwischen dem Bemalen von Keramiken mit Margaret-Thatcher-Motiven, gelegentlichen Angelausflügen mit Black Jack, einem etwas zurückgebliebenen Einheimischen und sexuellen Tagträumen immer im Kreis.
Bis eines Tages der tägliche Trott unterbrochen wird, als der rothaarige, von der Einwanderungsbehörde gesuchte Südafrikaner La Roux unvermittelt auf- und im Hotel abtaucht.
Nun entspinnt sich nicht etwa eine profane Liebesgeschichte, wie man vermuten könnte, nein, der Eindringling ist mindestens ebenso obskur wie der Rest der Familie und mischt das Leben aller Anwesenden mächtig durcheinander. Ob er sich nun ein Nest im Schrank baut oder mit Sturmhaube bewehrt die Gegend und besonders die Tümpel erkundet, nichts an ihm ist in irgendeiner Weise konventionell. Er schleicht sich in das "langsam schlagende Herz" der "unzulänglichen, reizbaren, unfeinen Familie" und auch Medve schwankt zwischen Ablehnung und einer gewissen Zuneigung zu La Roux, gelegentlich weckt er beinahe die "zotige, sexversessene, einsachtzig große Schwester Nightingale" in ihr.
Und so wird er auch für sie ein Fixpunkt, um den sich fast alles dreht, auch dann noch, wenn er "sich dann ohne viel Aufhebens zum Kentern brachte, uns andere jedoch alle dem Ertrinken" überlässt. Selbst als Medve ihn nach Jahren als Erwachsene wieder aufsucht, kann sie sich nicht ganz von ihm trennen.
Zugegebenermaßen klingt dies auf den ersten Blick reichlich merkwürdig, doch offenbaren sich die Stärken des Buches bei genauerem Hinsehen. Mit präzisen Beobachtungen und kleinen Details entfaltet Nicola Barker ein Panoptikum skuriler Gestalten und absurder Situationen. Manchmal direkt, manchmal hintersinnig ist ihr Humor, aber immer von einer gewissen Eigenwilligkeit. Auch die Sprache ist treffend und forsch, geradezu erfrischend lakonisch schildert Medve ihre Umgebung, ihre Phantasien und ihre selbstkritischen Betrachtungen. Ein wohltuend anderes Buch über das Erwachsenwerden, weitab von gängigen Klischees, heimlich erhobenen Zeigefingern und moralischen Botschaften.