Der deutsche Catull

Lessings "Kleinigkeiten" als Faksimile

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ab 1747 erscheinen manche der Gedichte Lessings in den von Christlob Mylius herausgegebenen Zeitschriften "Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts" und "Der Naturforscher". Eine größere Zahl veröffentlicht Lessing 1751 anonym bei Metzler in Stuttgart in der "Kleinigkeiten" betitelten Sammlung. Der schmale Band wurde von der Kritik freundlich aufgenommen, zumal Lessing mit einer Selbstrezension in der "Berlinischen Privilegierten Zeitung" vom 4. Dezember 1751 der Rezeption seines Erstlings kräftig vorgearbeitet hatte. Dort hat Lessing das Fehlen der letzten kritischen Durchsicht bedauert und das Versäumnis damit zu erklären versucht, dass dem Verfasser das Manuskript "schon ganzer drey Jahre aus den Händen gewesen" sei. Zwei Jahre später folgt der erste Band der "Schrifften", für den er die in den "Kleinigkeiten" enthaltenen Gedichte überarbeitet, einige Titel auch weglässt. Lessing erprobt alle damals gängigen Gattungen; in den "Schrifften" sind die Gedichte entsprechend in Lieder, Oden und Sinngedichte rubriziert. In der Vorrede des "Ersten Theil[s]" findet sich auch der programmatische Verweis auf die anakreontischen Lieder: "Diese Lieder enthalten nichts, als Wein und Liebe, nichts als Freude und Genuß; und ich wage es, ihnen vor den Augen der ernsthaften Welt meinen Namen zu geben? Was wird man von mir denken? - Was man will. Man nenne sie jugendliche Aufwallungen einer leichtsinnigen Moral, oder man nenne sie poetische Nachbildungen niemals gefühlter Regungen; man sage, ich habe meine Ausschweifungen darinne verewigen wollen, oder man sage, ich rühme mich darinne solcher Ausschweifungen, zu welchen ich nicht einmal geschickt sey; man gebe ihnen entweder einen allzuwahren Grund, oder man gebe ihnen gar keinen: alles wird mir einerley seyn. Genug sie sind da, und ich glaube, daß man sich dieser Art von Gedichten, so wenig als einer andern, zu schämen hat."

Zwei Stichworte scheinen in diesem Kontext besonders aufschlussreich, um Lessings lyrische Produktion einzuordnen. Zum einen: Mit dem Titel "Kleinigkeiten" betont Lessing den Traditionszusammenhang wie auch den Zeitbezug. Catull und Martial sprechen von "nugae" ("Tändeleien"), Friedrich von Hagedorn bezeichnet seine Lieder in einem Gedicht "An die Dichtkunst" ebenfalls als "Kleinigkeiten". Der Titel warnt somit davor, nach einer ernst zu nehmenden Aussage zu forschen. Wenn damit die sittlichen Bedenken vor allem der Liebeslyrik gegenüber entkräftet zu sein scheinen, so sind der Spielcharakter, der zur Schau getragene Unernst schon in sich Provokationen. Durch seine ganze Anlage wird der erste Lyrikband zur heiter-ironischen Kontrafaktur gewichtig belehrender Bücher, Widmung und Vorrede bestehen jeweils nur aus der Überschrift, das "Register der wichtigsten Sachen" bringt die Buchstaben des Alphabets: also mehr delectare als prodesse. Das lateinische Motto auf dem Titelblatt ("Parva mei mihi sunt cordi monumenta laboris;/ At populus tumido gaudeat Antimacho") stammt aus den "Carmina" des Catull. Die Berufung auf den römischen Dichter Catull, der in seinen Liebesliedern als erster römischer Dichter eigenes Erleben unter Verwendung griechischer Versformen gestaltete, hat, da der Ehrenname eines deutschen Horaz schon an Johann Friedrich von Hagedorn, der eines deutschen Anakreon an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vergeben war, dafür gesorgt, dass Lessing für die nächste Zeit zum deutschen Catull wurde. Zum anderen: In der von Mylius herausgegebenen Zeitschrift "Der Naturforscher" wird Lessing als "der anakreontische Freund" eingeführt. Die Anakreontik ist nun der Bezugsrahmen für einen Großteil der Gedichte des jungen Lessing. Damit stellt er sich in einen gattungsmäßigen Kontext, für den die Spannung zwischen "Leben", "Erleben" und "Fiktion" bzw. literarischer Tradition konstitutiv ist. Zugleich demonstrieren diese Texte die neue Diesseitigkeit der Aufklärung.

Anakreontisch zu dichten, ist um die Jahrhundertmitte in Deutschland eine literarische Mode, die sich jedoch einer Wiederbelebung antiker Traditionen verdankt. Initialtext ist die 1554 erfolgte Publikation eines Korpus von Liedern durch den humanistischen Gelehrten Henricus Stephanus, die er dem griechischen Dichter Anakreon zuschreibt und die einen ziemlich konstanten Motivschatz aufweisen: es geht um heiteren Lebensgenuss, Wein, die Verherrlichung der (sinnlichen) Liebe. Formal bestehen die Gedichte aus reimlosen, drei- oder vierhebigen jambischen oder trochäischen Versen, die ohne strophische Gliederung aneinander gereiht werden. Die Anakreontik-Mode in Deutschland ist im Wesentlichen bestimmt von Übersetzungen und philologischen Untersuchungen. So erscheint 1746 die erste vollständige Übertragung der Sammlung des Stephanus ins Deutsche durch Johann Peter Uz und Johann Nikolaus Götz. Bereits zwei Jahre zuvor erschien Gleims "Versuch in scherzhaften Liedern", 1749 veröffentlicht Uz seine "Lyrischen Gedichte". Diese Anakreontik-Übertragungen und -Adaptionen verhalfen signifikanten Bedürfnissen der Zeit zum Ausdruck. Indiz dafür ist die Dichtung des Hamburger Patriziers Hagedorn, die großen Einfluss auf die Gedichte der jungen Anakreontiker ausübte. Als Gattungsbegriff im strengeren Sinn umfasst Anakreontik, worauf Herbert Zeman schon 1972 hingewiesen hat, nur diejenigen Nachbildungen, die auch die Strukturmerkmale des griechischen Musters aufweisen. Von konstitutiver Bedeutung sind die Themen ("Wein" und/oder "sinnlich-erotische Liebe") sowie die Grundhaltung (heiterer Lebensgenuss, Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen). Häufig wird als Szenerie ein locus amoenus entworfen: Schäfer und Schäferinnen treten auf und die griechische Götterwelt wird zitiert.

Der Erfolg der Anakreontik um die Mitte des 18. Jahrhunderts hat vor allem mit der Aufwertung der 'Sinnlichkeit' zu tun. "Tugend" und "Lebensfreude" werden nicht mehr als unvereinbare Gegensätze gedacht. Angesichts einer Welt, in der jeder zur Glückseligkeit geschaffen ist (so will es neben der Philosophie der Zeit vor allem auch die Ästhetik Baumgartens und dessen Schülers Georg Friedrich Meier), wird dankbares Genießen der Gaben Gottes geradezu zur 'Pflicht'. Dem entspricht die zeitgenössische Stilisierung Anakreons zum Weisen, der zugleich ein Freund des Lebens ist. Häufig wird dabei in den Gedichten die Verschmelzung von Lust, Sinnlichkeit und Tugend thematisiert. Bei solcher Synthesebildung verwundert es nicht, dass Anakreontik und Empfindsamkeit zunächst nicht in einem Gegensatz-, sondern viel eher in einem Ergänzungsverhältnis zueinander stehen. Dies ändert sich schlagartig in dem Moment, da Anakreontik eindeutig-zweideutig das freie erotische Spiel suggeriert, und somit eine Spannung zur empfindsamen Nur-Vergeistigung des Gefühls besteht. Diese Spannung wird desto größer, je mehr die Texte den Ausdruck von "Subjektivität" reklamieren. Anakreontische Dichtung wird als "unsittlich" stigmatisiert. Lessing bezieht zweimal Stellung zu diesem Spannungsverhältnis. Zum einen verteidigt er in den "Literaturbriefen" Uz gegen die Vorwürfe, die Wieland gegen dessen Lyrik vorbringt. Zum anderen unternimmt er einen generellen Klärungsversuch mit den "Rettungen des Horaz" (1754).

Die Gedichte, mit denen Lessing 1751 unter dem Titel "Kleinigkeiten" debütiert, sind nun nicht gerade wegen ihrer Originalität interessant, sondern deswegen, weil sie sich auf so kongeniale Weise in den anakreontischen Diskurs der Zeit einschreiben. Die Anrufung des Anakreon eröffnet und beschließt deshalb auch Lessings Sammlung. Selbst das bescheidene Titelwort hat er sich von Hagedorn vorgeben lassen: "Den itzt an Liedern reichen Zeiten/ Empfehl ich diese Kleinigkeiten;/ Sie wollen nicht unsterblich sein." Lessing präsentiert Anakreon-Übersetzungen und Nachbildungen, "Scherze" im Sinne der Anakreontik, wobei erotische Freizügigkeit kokett zur Schau getragen wird und stets lustvoll wird der sinnliche Aspekt der Liebe betont. "Wein" und "Liebe" kristallisieren sich als die dominierenden Inhalte heraus, der Schluss gibt dem Ganzen eine neue, von der poetischen Gattung bestimmte Struktur. In vielen Texten propagiert Lessing das Ideal des heiteren Lebensgenusses und setzt es den vielfältigsten Formen von Lebensverzicht und Askese entgegen. Den Versuchen, mittels Theorie und philosophischer Abstraktion das 'Leben' beherrschen zu wollen, wird eine eindeutige Absage erteilt. Der Anakreontiker sagt allen "Narren, die sich isten", den Kampf an; zu diesen gehören u. a. Pietisten, Atheisten, Chymisten, Quietisten, Sophisten, Juristen, Publizisten, Linguisten und Stylisten. In Bedrängnis gerät dabei jedoch die "Tugend", zumal die Losung 'Wein und Liebe' allerlei Anzügliches, Schlüpfriges und Deftiges nach sich zieht, das schon der Familie des Dichters nicht behagte und auch für so manchen Aufschrei in der Philologie gesorgt hat. Lessing trieb diese 'Affäre' mit einer kecken Selbstverständlichkeit auch noch auf die Spitze, indem er einen fingierten Leser ("Horribilifax II.") grobianisch gegen solche "Sauf- und Hurenlieder schimpfen ließ. Ironisch vorbeugend schmückte er sein Manuskript wiederholt mit dem Vermerk "Vidi Censor". Unter Rekurs auf Martials "Vita verecunda est, Musa jocosa mihi" versuchte Lessing allerdings die Bereiche von Leben und Muse säuberlich zu trennen.

Insgesamt nur wenige Gedichte fallen aus der vorgegebenen Gattungsmélange aus Anakreontik und geselligem Studentenlied heraus. In ihnen kündigt sich die Intellektualität an, die zum Markenzeichen Lessings werden wird. Zum Beispiel reflektiert das Gedicht "Der gröste Mann" die Frage nach dem Ich, ein selbstreflexives und selbstironisches Moment tritt hervor, menschliche Schwäche wird demaskiert: "Wie viel giebt es nicht gröste Männer./ Kaum das sie zehlbar sind;/ Weil jeder angemaßte Kenner/ Sein Muster darzu dienlich findt./ Zuerst, laßt uns den Priester fragen,/ Wer ist der gröste Mann?/ Mit stolzen Minen wird er sagen/ Wer sich zum kleinsten machen kan./ Ists wahr? Laßt uns den Dichter hören./ Wer ist der gröste Mann?/ Er wird es uns in Versen schwören/ Ich bin es, weil ich reimen kan./ Wie nun? Laßt uns den Hofmann fragen:/ Wer ist der gröste Mann?/ Er bückt sich lächelt und wird sagen:/ Wer höflich seyn u. lügen kan./ Wollt ihr den weibschen Sänger fragen?/ Wer ist der gröste Mann?/ Er wird in schönen Trillern sagen:/ Ein Kapphahn sey der gröste Hahn./ Will mans vom Philosophen wißen/ Wer ist der gröste Mann?/ Aus dunkeln Plaudern wird er schließen,/ Wer mich versteht u. denken kan./ Was brauch ich jeden Thor zu fragen?/ Wer ist der gröste Man?/ Ihr seht, die Thoren alle sagen/ Wer mir am nächsten kommen kan./ Jedoch den klügsten Thor zu fragen,/ Wer ist der gröste Mann?/ So fraget mich, ich will euch sagen:/ Wer trunken sie verlachen kan."

Fast alle seine Text-Miniaturen verdichten die griechischen Vorlagen, bevorzugen die Lakonie und steuern zielsicher ihre Pointe an. Schon die Zeitgenossen haben die geschliffene Form und den pointierten Witz als hervorragende Eigenschaften des Anakreontikers Lessing gerühmt, in denen er seinen Konkurrenten überlegen war. Die "Kleinigkeiten" beleuchten eine Seite von Lessings literarischem Werk, die gerne vernachlässigt wird: den Einbezug des Sinnlichen bis hin zur Integration der Sexualität. Der Protest gegen die asketische Verleugnung der sinnlichen Bedürfnisse des Menschen schwingt in seinen Texten immer mit. In den "Rettungen des Horaz" spricht Lessing explizit davon, wie zentral der Aspekt der körperlichen Liebe für die Texte des römischen Dichters ist. In ihnen sucht Lessing nach einer Antwort auf die Frage, wie die erotische Liebeslyrik mit einer Literatur zu vereinbaren ist, für die der Ausdruck erhabener Gesinnungen und Gefühle im Zentrum steht: delectare und prodesse.

Für die Drucklegung hatte der neunzehnjährige Lessing eine erstaunliche Reinschrift und Druckvorlage angefertigt, die jetzt von Jochen Meyer im Marbacher Literaturarchiv, wo sie seit 1928 ruhte, korrekt katalogisiert, wieder entdeckt wurde. Der Herausgeber, Leiter der dortigen Handschriftenabteilung, bemerkt in seinem kenntnisreichen Nachwort süffisant, dass die hoch entwickelte Lessing-Philologie, in ihrer Entscheidung durch editorische Vorgaben beeinflusst, Lessings lyrisches Debüt um die ursprüngliche Gestalt gebracht und verstreut habe, indem sie die Texte entweder nach der "letzten Hand" (seit der ersten historisch-kritischen Lessing-Ausgabe von Lachmann-Muncker sind das fast alle weiteren Ausgaben) oder nach dem jeweils "ersten Druck" wiedergab (das betrifft die neue Lessing-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag, in der - allerdings mit gutem Grund - die Texte, um die es in der vorliegenden Faksimile-Ausgabe geht, auf die ersten beiden Bände der Edition ["Werke 1743-1750" und "Werke 1751-1753"] verteilt wurden). Jochen Meyers vorbildliche Edition bietet das vollständige Faksimile, eine Transkription, die die Lücken der Handschrift durch Zuhilfenahme der entsprechenden Druckfassungen füllt, einen detaillierten, durchweg eleganten Apparat mit Varianten und Erläuterungen sowie ein gründliches Nachwort, das den Text hilfreich kontextualisiert. Lessings "Kleinigkeiten" waren erfolgreich, bis 1779, zwei Jahre vor dem Tod des Dichters, erschienen immerhin fünf Auflagen. Diesen Erfolg darf man Meyers hübscher Trouvaille auch wünschen.

Titelbild

Gotthold Ephraim Lessing: Kleinigkeiten. Faksimile des Marbacher Manuskripts.
Vorgestellt von Jochen Meyer.
Wallstein Verlag, Göttingen 2001.
238 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3892443785

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