Heimat ist immer nur die Mutter

Andrea Müllers Monographie über Mutterfiguren und Mütterlichkeit im Werk Clara Viebigs

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anhand einer durchdachten und mehrdimensional aufgefächerten Auswahl aus dem umfangreichen Œuvre Clara Viebigs hat Andrea Müller in ihrer Dissertation die Darstellung von Mutterfiguren und Mütterlichkeit im Werk der dem Naturalismus zugerechneten Schriftstellerin untersucht. Herangezogen hat die Autorin zehn Werke aus den drei literarischen Gattungen Roman, Novelle und Drama, die zugleich drei Handlungsorte abdecken: die Eifel, Berlin und die deutschen Ostgebiete. Zudem hat sie darauf Wert gelegt, dass die Beispiele aus verschiedenen Schaffensperioden der Autorin stammen, um aufzeigen zu können, "wie bestimmte Motive, Vorstellungen oder Handlungskonstellationen Viebigs Gesamtwerk durchziehen beziehungsweise sich über die lange Schaffenszeit der Autorin hinweg verändern". Auch die Untersuchung der Mütterlichkeitsdarstellungen wurde von der Autorin auf sinnvolle Weise dreigegliedert. Zunächst wird der "familiäre Binnenraum" der Mutter-Kind-Beziehungen beleuchtet, sodann deren Verhältnis zur Gesellschaft und schließlich dasjenige zum sie umgebenden Lebensraum.

Bevor Müller sich jedoch den Mutterfiguren und der Konstruktion von Mütterlichkeit im Werk Viebigs zuwendet, widmet sie sich in einem ausführlichen Kapitel der Konstruktion des Mutterbildes in der Gesellschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wobei sie einen Schwerpunkt auf die Politisierung von Mütterlichkeit und Mutterschaft setzt. Hierbei fasst sie nicht zuletzt die Positionen einer Reihe von Feministinnen des bürgerlichen Lagers ins Auge, unter ihnen an prominenter Stelle Helene Lange und Gertrude Bäumer. Auf dieser Grundlage gelingt es der Autorin überzeugend nachzuweisen, dass das Bild der "guten Mutter" im Werk Viebigs, eine Frau zeigt, die bereit ist, die zahllosen Opfer, die sie für ihre Kinder erbringen muss, nicht nur zu akzeptieren, sondern "aus der ihr abverlangten Selbstlosigkeit" ihre eigentliche Befriedigung zu ziehen. Solche Befriedigung deckt sich mit dem von der bürgerlichen Frauenbewegung propagierten Mutterideal, das der guten Mutter ebenfalls "Rücknahme ihrer Eigeninteressen, ja Selbstopfer zuschreibt". Allerdings steht die "primitive, beinahe animalisch anmutende Komponente", die Viebig der Mutterliebe einschreibt, in "starke[m] Kontrast" zu den "als idyllisches Miteinander imaginierten Familienwelten" der bürgerlichen Frauenbewegung.

Wird das Kind von Viebig im Allgemeinen "glorifiziert" und zur "Erlöserfigur" stilisiert, die die Frau durch die Mutterschaft vom sexuellen Begehren 'erlöst', so erschöpfen sich Viebigs Mutterdarstellungen gleichwohl nicht in der "guten Mutter". Vielmehr umfassen sie verschiedene "Spielarten", wie etwa "die gequälte, die leidende Mutter, die aggressiv-gewalttätige, besitzergreifende Mutter oder auch die naiv, dumme, lästige Mutter". In dem Roman "Absolvo te!" zeichnet Viebig gar eine "von ihrer Mutterschaft zutiefst angewiderte Frau", deren "widernatürlich konnotierter Aversion gegen die Mutterschaft" der Ekel vor dem männlichen Begehren zugrunde liegt, der seinerseits wiederum seine Ursache darin hat, dass die Protagonistin "von ihrer eigenen Mutter an den reichen, ihr widerwärtigen Herrn Tiralla verkauft" worden war. Nun sieht sie sich, auch durch das Kind "wieder und wieder Übergriffen auf ihren Körper ausgesetzt", und kann Schwangerschaft, Geburt und Stillen nur als solche empfinden.

Ebenso überzeugend wie Müllers Analyse des Mutter-Kind-Verhältnisses in Viebigs Werken fällt ihre Interpretation des Verhältnisses von "Mutterschaft und Lebensraum" aus. Ist bei Viebig die Stadt ein eindeutig "männlich geprägter Kulturraum", so weist sie dem Dorf die "Konnotation des Mütterlichen" zu, die ihrerseits wiederum mit Heimat konnotiert ist. Mütterlichkeit, Heimat und ländlich-dörflicher Lebensraum sind somit untrennbar miteinander verschränkt und erscheinen in ihrer Natürlichkeit als der "positive Raum, der im Menschen die besten Eigenschaften wachzurufen vermag" und "ihn zur starken Persönlichkeit reifen lässt". Die männlich konnotierte Stadt wird von Viebig demgegenüber als Ort dargestellt, "der Menschen ihrer Persönlichkeit, ihrer Identität beraubt".

Hat Müller anhand von detaillierten Einzeluntersuchungen sowohl innerfamiliäre Mutter-Kind-Beziehungen als auch deren Außenbeziehungen zu Gesellschaft und Lebensraum einer überzeugenden Analyse unterzogen und schließlich die Verbundenheit des Viebigschen Mutterideals mit dem der bürgerlichen Frauenbewegung nachgewiesen, so gelingt ihr der ebenfalls intendierte Nachvollzug der Veränderung von Motiven, Vorstellungen und Handlungskonstellationen bei Viebig nur äußerst unzulänglich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Erscheinungsjahre der einzelnen Werke nur höchst selten genannt werden. Die diesbezüglichen - im Verlauf der Ausführungen fast schon beiläufig zu nennenden - Äußerungen beschränken sich etwa auf die Bemerkung, dass die Abwertung des Lehrerinnenberufs "im Frühwerk 'Reinlandstöchter'" im späteren Roman "Die mit den tausend Kindern" "aufgefangen" sei, oder auf die Feststellung, es könne ein "widerkehrendes Idealbild der mütterlichen Frau ermittelt" werden, wenn man "die Darstellung der Figuren Bäbbi und Mine aus den beiden 1900 erschienenen Romanen 'Das Weiberdorf' und 'Das tägliche Brot' mit der Heldin des Romans 'Die mit den tausend Kindern' von 1929" vergleicht. Die aus dem Text meist nicht ersichtliche zeitliche Zuordnung der Werke Viebigs wird für die Lesenden zudem dadurch erschwert, dass Müller im Literaturverzeichnis zwar das Erscheinungsjahr der für die Untersuchung herangezogenen Ausgaben nennt (nach denen die Werke zu allem Übel auch noch angeordnet sind), nicht aber das Erscheinungsjahr der Erstveröffentlichungen.

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Andrea Müller: Mutterfiguren und Mütterlichkeit im Werk Clara Viebigs.
Tectum Verlag, Marburg 2002.
352 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 382888346X

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