Ein Autor, der anstrengt und nervt
Über die Schwierigkeiten einer Musil-Lektüre oder: Reich-Ranicki lässt es zischen
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMeinen persönlichen "Pisa-Schock" erlebte ich am 20. Mai 2001, als Günther Jauch die Frage stellte: "Wie heißt Robert Musils berühmter Roman: 'Der Mann ohne...'?" Zur Wahl standen: 1. "Eigenschaften", 2. "Hemmungen", 3. "Nerven" und 4. "Handy". Der ratlose Kandidat gab die Frage ans Publikum weiter. Dessen Antwort fiel so aus: Je 20 Prozent votierten für Nr. 1 und 2, 58 Prozent für Nr. 3, und immerhin zwei Prozent sahen Musils Protagonisten auf der Suche nach einer Telefonzelle. Der Möchtegern-Millionär schloss sich der Mehrheit an. Günther Jauch, sichtlich fassungslos, schickte ihn nach Hause.
Kaum anzunehmen, dass es ihm mit Kafkas "Process", Thomas Manns "Zauberberg" oder Joyce' "Ulysses" ähnlich ergangen wäre. Im Kreis jener Autoren, denen allgemein weltliterarischer Rang zugebilligt wird, ist Musil auch 60 Jahre nach seinem Tod der Ungelesenste wie Unbekannteste. Dass sich jetzt Marcel Reich-Ranicki seiner angenommen hat ("Der Spiegel" Nr. 34/2002, "Die Welt" vom 24.8.02, "Sieben Wegbereiter", DVA 2002), dürfte daran kaum etwas ändern. Im Gegenteil. Will der Kritiker doch den überfälligen Kurssturz eines, aus seiner Sicht, hoffnungslos überbewerteten Autors einleiten und mit Musil "eine Ikone der Moderne entzaubern". Verantwortlich für die schwindelerregenden Höhen, in die der literarische Marktwert des österreichischen Romanciers getrieben wurde, soll eine offenbar mafiose, sich wechselseitig bestätigende "Musil-Gemeinde" sein, die "Robert-Musil-Industrie", beheimatet in den Elfenbeintürmen einer von allem gesunden Leseverstand losgelösten Germanistik. Diese Clique habe die Wiederentdeckung des zu Lebzeiten längst vergessenen Dichters in den 50er und 60er Jahren inszeniert und feiere ihn und sich nun auf Kongressen und in Festbänden. Genüsslich sticht der Kritiker als legitimer Vertreter des Publikums in den Musil'schen Ballon und lässt es gehörig zischen: Ein "Meister der Stilblüten" sei Musil gewesen, psychisch gestört und als Autor wie im Leben gescheitert, sein auch nach jahrzehntelanger Arbeit unvollendet gebliebener Riesenroman eine langweilige, blutleere "Wüste mit einigen Oasen" und vielen Kapiteln, die entweder geklaut sind oder einfach nur kitschig; Lektüre allenfalls für Masochisten also.
Dergleichen liest man gern. Wer bislang beim Gang zum Bücherregal stets nur mit schlechtem Gewissen am "Mann ohne Eigenschaften" vorbeigriff, könnte jetzt den Dünndruckwälzer gleich ganz ausmustern und Platz für den neuen Updike schaffen. Oder auf eine, das Fassungsvermögen des Kritikers garantiert nicht übersteigende Auswahl aus dem mehrtausendseitigen Romantorso hoffen, wie sie Reich-Ranicki nun angedroht hat. Musilianer dagegen können sich damit trösten, dass der Literaturpapst seine Fehlbarkeit für, im weitesten Sinn, avantgardistische, reflexive oder postmoderne Literatur, nicht zum ersten Mal unter Beweis stellt und sich ihr Lieblingsautor nun in illustrer Gesellschaft befindet - neben, sagen wir, Peter Handke, Umberto Eco, Christa Wolf und Harold Brodkey.
So einfach sollten sie es sich jedoch nicht machen. Sind die Schwierigkeiten, die Musil dem Leser bereiten kann, doch in der Tat exorbitant. Jeder, der sich einmal an den "Vereinigungen", dem esoterischsten Werk in Musils Œuvre, versucht hat, wird dies bestätigen. Und der buchstäblich endlose "Mann ohne Eigenschaften", schrieb Jean-François Peyret einmal treffend, ist ein "Monstrum", eine "Foltermaschine", er "lädt zu einer Lektüre ein, die ein Selbstmord, ein Selbstmord beim Lesen ist. Wieviele mutige Leser haben sich schon in diesen Ozean von mehr als 2000 Seiten gestürzt und sind nie wieder aufgetaucht?"
Was ist denn auch von einem Autor zu halten, der sich seinen mangelnden Erfolg beim Publikum damit erklärte, "daß die deutschen Leser nicht mehr lesen können"? Der seine Leserschaft, nicht gerade einladend, als "einen kleinen Kreis von Hypersensiblen" beschrieb, "die keine Realitätsgefühle mehr - nicht einmal perverse - haben, sondern nur literarische Vorstellungen davon"? Der sich nach der Lektüre seiner eigenen Novellen im Tagebuch eingestand: "Ich ertrage keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit..."?
Die Schwierigkeiten einer Musil-Lektüre gründen primär in der Form, der Schreibweise von Musils Texten und in der damit verbundenen unüblichen Rezeptionsweise, die dem Leser mehr und anderes abverlangt als bei Texten anderer Autoren. So haben beispielsweise die Metaphern und Vergleiche bei Musil eine Funktion und Relevanz, wie man sie so von keinem anderen Autor kennt. Ihre nie still stehende Bedeutung spielt auf mehreren, miteinander verknüpften Ebenen, die ein vielstimmiges, letztlich unauslotbares Netz bilden, das Figuren und Handlung, Symbolebene(n), literarische und außerliterarische Diskurse und nicht zuletzt Bewusstes und Unbewusstes von Autor und Leser miteinander kurzschließt. Wer Musils Texte liest, wie man gewöhnlich liest, nämlich primär inhaltsorientiert, muss an ihnen nahezu zwangsläufig scheitern und aus dem Kontext gerissene Zitate als kitschig empfinden.
Bezogen auf die "Vereinigungen" schrieb der Autor einmal: "Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist." Soll heißen: An die Stelle der üblichen extensiven, einmaligen Lektüre müsste, wollte man sehen, "was es ist", ein Lesen treten, das mehr dem Betrachten eines Bildes gleicht. Eine intensive, tranceartige Wiederholungslektüre, frei assoziierend und mit gleich schwebender Aufmerksamkeit, ein, in Nietzsches Worten, Lesen "langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken mit offengelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen". Die Folge wäre im Idealfall eine zauberhafte Inversion des gewohnten Subjekt-Objekt-Verhältnisses. "Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als sein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge." Musils viel beschworener "anderer Zustand" eben.
Machen wir uns nichts vor. Ein Autor, der solches von uns fordert, der solches uns antun will und nur so gelesen werden kann, strengt an und nervt. Zumal den professionellen Leser vom Typus Kritiker. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg nicht anders als im Zeitalter von Handys, Quizshows und "Counterstrike". Zeit und Energie für solche (Selbst-)Experimente sind in der modernen Gesellschaft ein kostbares, rares Gut, Bereitschaft und Vermögen zu einer derartigen Totalversenkung kaum noch existent, noch weniger das Wissen um ihre Möglichkeit. Auch wenn Musils nach 1900 entstandene Poetik selbst eine Reaktion auf eine durch den Modernisierungsschub als sinnentleert empfundene Lebenswelt darstellt und auf eine gegen Schnelllebigkeit und Reizüberflutung opponierende neue "Innerlichkeit" zielt, wie sie sich auch in Jugendstil, Psychoanalyse und Neuromantik manifestierte, auch wenn sie in vielem bereits auf die ästhetischen Konzepte der Postmoderne vorausweist - es ist gut möglich, dass ihr in Zukunft auch noch die letzten "Hypersensiblen" abhanden kommen. Doch müsste man, um dieses "andere" Lesen kennen zu lernen, ja nicht gleich das Exerzitium einer Lektüre des "Mann ohne Eigenschaften" auf sich nehmen. Es genügten bereits die kurzen Prosatexte, die Musil in dem schmalen Band "Nachlaß zu Lebzeiten" (Rowohlt Verlag) unter dem Titel "Bilder" zusammengestellt hat. Vielleicht würde der eine oder andere dann erkennen, was es ist.
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