Ein durch Psychoanalyse verjauchtes Gehirn

Bettina Fraisl beleuchtet die (De-)Konstruktionen von Weiblichkeit und Leiblichkeit im Œuvre Mela Hartwigs

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine als wahnsinnig pathologisierte Frau widerlegt die Diagnose des Arztes ebenso eloquent wie argumentativ überzeugend, indem sie die Logik und Stimmigkeit ihrer Absichten und ihres Handelns darlegt, während der Arzt auf diese Infragestellung seiner Kompetenz nur mit hilfloser Zustimmung reagieren kann. Diese Szene aus Mela Hartwigs "Aufzeichnungen einer Häßlichen" stellt eine vielschichtige "Ungeheuerlichkeit" dar, da hier nicht nur die der Frau qua Geschlecht vorgegebenen "Kompetenzbereiche und Grenzen" überschritten werden, sondern auch die grundsätzliche Unterscheidbarkeit dessen, was als Normalität und was als Wahnsinn zu gelten hat, in Frage gestellt werden. Eine für Hartwigs 1928 erschienenen Novellenband "Ekstasen" insgesamt "paradigmatische" Szene. Diese Auffassung vertritt zumindest Bettina Fraisl in ihrer Untersuchung der (De-)Konstruktionen von Weiblichkeit und Leiblichkeit im Mela Hartwigs frühen Prosa-Werk; und sie versteht den Befund nachdrücklich zu belegen.

Wie zahlreiche AutorInnen der Moderne literarisierte auch Mela Hartwig Erkenntnisse und Probleme der seinerzeit in allen Köpfen virulenten Psychoanalyse. Zwar teilte die Autorin, wie Fraisl zeigt, wesentliche Grundannahmen Freuds, so etwa die der herausragenden Bedeutung, die der Sexualität für die psychische Entwicklung zukommt, kritisierte aber gleichzeitig die der Psychoanalyse innewohnenden Machtstrukturen. Dies geschah insbesondere in Hinblick auf deren geschlechtsspezifische Ausdeutung, wobei Hartwig ihre literarisierte "Kritik der Psychoanalyse mit durchaus psychoanalytischen Mitteln" vorbrachte. Das veranlasste den Rezensenten Jörn Oven seinerzeit Hartwigs "Ekstasen" als "scheußliche Wunsch- und Wahnerotika eines durch Psychoanalyse verjauchten Gehirns" zu verunglimpfen.

Von solchen Verbalinjurien weit entfernt zeichnet sich die Untersuchung der gender-theoretisch geschulten und dem new historicism verpflichteten Autorin durch eine - wenn auch nicht in jeder Hinsicht zustimmungsfähige, so doch gründliche - methodische und theoretische Fundierung ihrer detaillierten Einzeluntersuchungen von Hartwigs Frühwerk aus, zu der sie philosophische, kunstwissenschaftliche und sozialhistorische Forschungsansätze heranzieht, die sich Gender als Analysekategorie bedienen. So werden die ausgewählten Novellen und Romane unter "Rückbindung" an den sozioökonomischen, literaturhistorischen und philosophischen Kontext zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine Art beleuchtet, welche die "Fixierung und (Re)Naturalisierung" der Kategorie Geschlecht durch die Zuschreibung einer bestimmten 'Geschlechtsspezifität' vermeidet.

Fraisl geht davon aus, dass es "keinen Rückgriff auf den Körper" gibt. Das beinhaltet, dass nicht nur das soziale, sondern ebenso das biologische Geschlecht "diskursiv produziert" wird. Somit wird ihr die Unterscheidung von Sex und Gender "letztlich fraglich". Allerdings bleibt anzumerken, dass dennoch zwischen - diskursiv produziertem - Gender und - ebenfalls diskursiv produziertem - Sex unterschieden werden kann. So hält auch Fraisl an dieser Unterscheidung der Kategorie Geschlecht fest und verwendet die Begriffe 'männlich' und 'weiblich', da diese nicht nur "als gesellschaftliche Stereotype weiterhin wirksam" sind und die "kulturellen Repräsentationsweisen" strukturieren, sondern auch, weil die Sprache keine andere Möglichkeit bietet, "um 'weibliche' Erfahrungen einzubringen".

Bevor Fraisl sich den Einzeluntersuchungen von Hartwigs frühen Prosatexten zuwendet liefert sie in einem ausführlichen Prolegomenon einen Abriss des psychoanalytischen, und philosophischen Hintergrundes ihrer Arbeit, in dem auch der soziohistorische Kontext der untersuchten Texte dargelegt wird. Im Abschnitt über psychoanalytische Theorie expliziert die Autorin die Bedeutung und Entwicklung von 'Weiblichkeit' im Diskurs der Psychoanalyse und die "(un)möglichen symbolischen Repräsentationsweisen des 'Weiblichen'". Das sehr interessante Kapitel zum soziohistorischen Kontext von Hartwigs Texten widmet sich vor allem der Genese des bürgerlichen Frauenideals vor 1900 und seiner anhaltenden Wirkungsmächtigkeit nach der Jahrhundertwende. Dass Fraisl Hartwigs Frauenfiguren vor dem Hintergrund der hierüber erfolgten "Zuschreibungen an die Frau, die stets auch über ihren Körper verlaufen" untersucht, macht ihre - unausgesprochene - Verpflichtung dem new historicism gegenüber deutlich, den sie fruchtbar mit gender-theoretischen Erkenntnissen zu verbinden versteht.

Problematisch ist allerdings der philosophische Hintergrund der Arbeit. So etwa, dass Fraisl, mit Elisabeth List - die die Autorin für ein "Denken der Grenzen der Dekonstruktion von Körper und Geschlecht" sensibilisierte - das Primat des "Leibkörpers" gegen den "konstruktivistischen Imperialismus des Diskursiven" verteidigt, ohne zu bemerken, dass sie hiermit in Widerspruch zu ihrer Auffassung gerät, dass auch Sex "diskursiv produziert" ist; zumindest aber scheint sie dies nicht weiter zu beunruhigen. Jedenfalls erklärt sie sich explizit bereit, die Schwierigkeiten, die sich aus der Präsumption einer "prä- und nicht-diskursiven Leiblichkeit" und der Annahme einer "leiblichen Verankerung des Diskursiven" ergeben, um der "phänomenologischen Annäherung an den Leib" willen in kauf zu nehmen, die sie im Anschluss an Merleau-Ponty unternehmen möchte. Der Gebrauch, den der Mensch von seinem Leib mache, erklärte der französische Phänomenologe, transzendiere den Körper als bloß biologisch Seiendes. Leib, so ergänzt Fraisl, meine "in Abgrenzung zu einem betrachtbaren äußerlichen und vergegenständlichten Körper", der "unabhängig von einem konkreten Subjekt" gedacht werden könne, den "erlebten Leib", der "immer schon 'transzendierte Faktizität'" sei. Was allerdings Merleau-Pontys "Phänomenologie der Leiblichkeit" und die aus ihr folgende Leib/Körper-Unterscheidung gegenüber derjenigen Helmuth Plessners auszeichnet, die von Gesa Lindemann für den feministischen Diskurs fruchtbar gemacht wurde, will nicht recht klar werden; zumal Fraisl weder die Unterschiede beider Konzepte herausarbeitet noch das konkurrierende auch nur vorstellt. Zur Erhellung trägt auch nicht bei, dass die Autorin "meist" auch dann das Wort "Körper" verwendet, wenn es mit der von ihr skizzierten Unterscheidung nicht "positiv korreliert". Vermutlich ist aber der Grund ihrer Referenz auf Merleau-Pontys Konzept darin zu suchen, dass es den aktiven Weltbezug des Leibes stärker betont, als dies bei Plessner und Lindemann der Fall ist. Denn im phänomenologischen Konzept Merleau-Pontys und Fraisls meint "leiblich existieren" immer schon in der Welt engagiert zu sein, d. h. "intentional auf sie ausgerichtet" und ihr gegenüber "absichtsvoll und offen" zu sein. Dies ermöglicht die "Erweiterung des traditionellen Vernunftbegriffes um ein nicht rational-reflexives Wissen des Leibes", welches die "Aufgabe eines absoluten Erkenntnis- und Wahrheitsanspruches" nach sich zieht. Der wird allerdings auch von anderen Leib-Körpertheoretikerinnen abgelehnt und ist unter den PhilosophInnen Postmoderne überhaupt schwerlich auszumachen. Letztlich aber ist es Fraisl um den erkenntnis- bzw. wahrnehmungsrelevanten Aspekt der Leib-/Körperdifferenz von Merleau-Pontys Bestimmung des Leibes zu tun, die eine Theorie des situierten Wissens ermöglicht. Doch auch diesmal werden die Vor- und Nachteile gegenüber konkurrierenden (feministischen) Theorien, hier etwa die des situierten Wissens bei Donna Haraway, nicht erörtert.

Der Überzeugungskraft von Fraisls Lesarten der von ihr untersuchten Texte Hartwigs (die vier Novellen des Bandes "Ekstasen", die Novelle "Das Kind" sowie die Romane "Das Weib ist ein Nichts" und "Bin ich ein überflüssiger Mensch?") tut solche Kritik allerdings kein Abbruch. Zwar befasst sich die Autorin nicht als erste mit Hartwigs Literarisierung der Psychoanalyse, doch setzt sie durch ihre Fokussierung auf die (De-)Konstruktion von Leiblichkeit und Weiblichkeit in Hartwigs Schriften neue Akzente. Hartwig, so Fraisl, lote mit den "Körper(de)konstruktionen" ihrer Texte nicht nur die über den Körper erfolgende "Fremdbestimmung von 'Weiblichkeit'" aus. Auf der Ebene des Textkörpers führe sie zudem "den als abwesend inszenierten männlichen Körper" ein und subvertiere somit die Konstruktion des sich als geschlechts- und körperlos inthronisierenden "neuzeitlichen männlichen Vernunftsubjekts". Auch sieht Fraisl "einschlägige Attibute" von 'Weiblichkeit' wie Expressivität, Emotionalität, Traditionalität, Materialität und Körperlichkeit in Hartwigs "auffallend körpermetaphorischer Schreibweise" versprachlicht. Diese geschlechtsspezifischen "Zuschreibungsmuster" werden in Hartwigs Prosa zwar "auf motivischer Ebene" kritisch literarisiert, doch erscheinen sie durch eine "Verschiebung" auf der "Ebene des Textkörpers" wieder.

Während Hartwig in Bibliana, der Protagonistin des Romans "Das Weib ist ein Nichts", eine Frau darstellt, "die sich ihrer 'Anatomie' als 'Schicksal' fügt, indem sie die patriarchale komplementärnarzistische Fremdbestimmung wählt", signalisiert schon der Titel der Novelle "Aufzeichnungen einer Häßlichen" die Relevanz des Körpers. Doch erweist sich zur Untersuchung der (De-)Konstruktion von Leiblichkeit in Hartwigs Werk eine andere Novelle aus "Ekstasen" als besonders ergiebig: "Der phantastische Paragraph". Der "erlebende und beschriebene Körper" der Protagonistin mit dem sprechenden Namen Sabine Seltsam, ist "ein weiblicher und von vornherein verletzter", weil er ein kranker Körper ist. Dabei fungiert er nicht nur als "Medium kultureller Einschreibungen", sondern zudem als "Möglichkeit von Grenzüberschreitungen". Durch die "partielle Transzendierung seiner Faktizität" eröffnet sich eine Möglichkeit, binäre Codierungen zu unterwandern. Überhaupt geht es Hartwig Fraisl zufolge darum, die trennscharfe Grenze zwischen den Geschlechtern in eine "gleichsam osmotisch durchlässige umzudeuten", ohne dass die Autorin jedoch in der Propagierung von "androgyner Vereinheitlichung" ende. Ein - nicht nur - in den zwanziger Jahren des verstrichenen Jahrhunderts provokantes Unternehmen; und dabei nicht einmal Hartwigs einzige Provokation: Weibliches Begehren, Inzesttabu und Abtreibung werden, wie Fraisl feststellt, ebenso literarisiert wie die in diesen und anderen Bereichen virulenten "patriarchalen Unterdrückungsmechanismen". Andererseits werden aber auch die "utopisch-befreienden" Aspekte der 'neuen Frau' untergraben. So etwa, wenn Hartwig das Leben von Frauen literarisiert, die zwar Studium und Beruf erobern, dafür aber den Preis eines unglücklichen Lebens voller Krankheit, Ungerechtigkeit und "AußenseiterInnentum" zahlen müssen.

"Der weibliche Körper", so lautet Fraisls Resümee, erweist sich in Hartwigs frühen Prosawerken zwar einerseits als "Ort von Konstruktionsprozessen" sowie als "Zeichen von Assimilierung" und internalisierter "fremdbestimmter Identität". Doch obwohl er gerade hinsichtlich der attributierten Leiblichkeit, als krank, schmerzend und verletzlich erscheint, wird er doch auch als "lustvoll ekstatisch" dargestellt. Damit korrespondierend weist er als "Gedächtnisort" nicht nur "Spuren von Einschreibungen" auf, über die eine "aufoktroyerte körperliche Rhetorik" erlernt wurde, sondern fungiert auch als "Artikulationsorgan leibhaftigen Eigen-Sinns" und als "Fundus regenerativer Impulse". So wird die "binäre Konstruktion" der Geschlechter von Hartwig hinsichtlich ihrer körperlichen Zuschreibungen "literarisch vielschichtig" nachgezeichnet, und zwar "in durchaus affirmativer und kritischer Weise".

Titelbild

Bettina Fraisl: Körper und Text. (De-)Konstruktionen von Weiblichkeit und Leiblichkeit bei Mela Hartwig.
Passagen Verlag, Wien 2002.
366 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-10: 3851655281

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