Gottes Geschenk und seine Folgen

Über neue und neu aufgelegte Standardwerke der Medien- und Kommunikationswissenschaft

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom US-Magazin "Time" wurde er zum "Mann des zweiten Jahrtausends" gewählt: Johannes Gensfleisch zur Laden, besser bekannt unter dem Namen "Gutenberg". Seine kulturrevolutionäre Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern hat die Neuzeit erst möglich gemacht.

Die historische Bedeutung dieser Erfindung wird deutlicher, stellt man die kontrafaktische Frage, was gewesen wäre, hätte Gutenberg die Kulturtechnik des Buchdrucks nicht erfunden. Dies impliziert jedoch drei unterschiedliche Fragestellungen. Am einfachsten noch lässt sich die Frage beantworten, was gewesen wäre, wenn der Druck nicht um 1450 erfunden worden wäre: Dann wäre er nämlich zweifellos irgendwann später erfunden worden, die Zeit für diese Erfindung war "reif". Unklar freilich bleiben die genauen Folgen, die aufgrund einer Zeitverzögerung für die weitere kulturelle, ökonomische und soziale Entwicklung entstanden wären. Wenn nicht Gutenberg den Druck erfunden hätte, dann hätte ihn wohl jemand anderes erfunden, was vermutlich keine allzu große Folgen gehabt hätte.

Dramatische Auswirkungen allerdings hätte es gehabt, wäre der Druck überhaupt nicht erfunden worden: Beispielsweise auf die neuzeitliche Staatenbildung, gewährte diese Erfindung doch Staat und Kirche neue Möglichkeiten zur Uniformierung und Vereinheitlichung der Verwaltung und stärkte auf diese Weise die herrschenden Mächte. Die Wissenschaft, die sich weiterhin mit Abschriften hätte behelfen müssen, hätte nicht die ihr seit der Neuzeit eigene Dynamik entwickeln können, aufgrund der sie sich horizontal in Spezialdisziplinen ausdifferenzierte und vertikal zunehmend von anderen Diskursformationen abgrenzte durch die Schaffung eines strukturiert-verbindlichen Wissens. Auch Nationalsprache und Nationalliteratur hätten sich in der Folge nicht derart rasch ausbilden können. Vor allem aber hätte Luthers Reformation wohl das Schicksal früherer Kirchenspaltungen erlitten: Luther war sich der Bedeutung des Buchdrucks für sein Unternehmen wohl bewusst: Durch den Buchdruck sah er das Wort Gottes aus der Auslegungsgewalt der Kirche befreit und ein "Streitbar wort" geworden, "daß da vmb sich schleget vnd hewet [schlägt und haut]". Gott habe mit der "Druckerey [... der Menschheit das] Summum et postremum donum [das höchste und neueste Geschenk]" gemacht.

Angestellt hat dieses kontrafaktische Gedankenspiel der promovierte Historiker und habilitierte Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber. Mit seiner "Deutschen Pressegeschichte" liegt endlich eine aktuelle, konzise Darstellung der Entwicklung der Presse im deutschsprachigen Raum vom 15. bis ins 20. Jahrhundert vor. Die Einführung berücksichtigt Aspekte wie die Herausbildung und Veränderung von Öffentlichkeit, des Medienrechts und der Medienpolitik sowie die Professionalisierung der publizistischen Berufe. Der Leitfaden der Darstellung bleibt die chronologische Entwicklung; erst im zweiten Teil (19. und 20. Jahrhundert) treten systematische Gesichtspunkte (Presserecht, Zensur, Entwicklung der Presseinhalte usw.) in den Vordergrund. Stöber liefert einen strukturierten, kompetent geschriebenen und gut lesbaren Überblick; zahlreiche Tabellen und Grafiken vermitteln anschaulich Veränderungen und Trends; ein umfangreiches Glossar leistet nützliche Dienste. Unverständlich bleibt jedoch, warum Stöber seine Pressegeschichte bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts enden und somit die Gegenwart außen vor lässt.

Heute, mehr als 500 Jahre nach Gutenbergs Erfindung, die Stöber mit Recht als "take off" für die Entwicklung der Neuzeit einstuft, gilt in der massenmedial-polyperspektivisch beobachteten Weltgesellschaft Luhmanns Diktum: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Ergänzend ließe sich sagen: Was wir über die Massenmedien wissen, wissen wir aus den immer wichtiger werdenden Medien- und Kommunikationswissenschaften, die innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften, auch dank der Dynamik ihres Untersuchungsobjektes, so etwas wie die Avantgarde an der Theoriefront darstellen. Eine umfassende Gesamtdarstellung der Erforschung der Medien und ihrer Geschichte ist nun unter dem Titel "Handbuch der Mediengeschichte" von Helmut Schanze herausgegeben worden. Es entstand im Kontext eines Sonderforschungsbereichs, der sich schon seit 1985 vor allem mit dem Medium Fernsehen beschäftigt hat, und wird seinem Anspruch, "den gegenwärtigen, dynamischen Stand der Forschung [zu dokumentieren] und zugleich Perspektiven [zu] eröffnen", durchaus gerecht.

Das Handbuch gliedert sich in einen systematischen und einen historischen Teil. Unter "Systematische Konzepte" finden sich knappe, überblicksartige Darstellungen und Einführungen u. a. zur Medientheorie, -analyse, -ästhetik, -psychologie, und -soziologie. Der historische Teil liefert die Mediengeschichten der Literatur, des Theaters, der Musik bis hin zu der des Fernsehens und der neuen digitalen Medien, einschließlich Internet und DVD. Ein solcher historischer Abriss ausgerechnet der Presse bzw. des Journalismus scheint dagegen vergessen worden zu sein. Bindeglied der beiden Teile ist eine von Helmut Schanze verfasste "Integrale Mediengeschichte". Den roten Faden dieses Beitrags bildet zwar die Geschichte der Medientechnologie, doch finden auch Forschungsergebnisse der Sozial- und Mentalitätsgeschichte, der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte ihre Berücksichtigung bei Schanzes faszinierendem Versuch einer Zusammenschau der Abfolge und Wechselwirkungen der einzelnen Medien.

Daran, dass dieses "Handbuch" ein neues Standardwerk werden wird, dürfte kaum ein Zweifel bestehen. Die ebenso kompakt wie souverän geschriebenen Überblicke beeindrucken gerade im systematischen Teil, so etwa der Beitrag "Medienpsychologie", der den Weg vom Mesmerismus bis zur Psychologie im Internet verfolgt. Doch bleibt ein Wermutstropfen: Der Stil der meisten Beiträge ist eine äußerst spröde, aufgrund ihres Komprimierungsgrades nur unlustvoll zu lesende Wissenschaftsprosa. Die Absicht der Autoren, möglichst vollständige und möglichst knappe Überblicke zu liefern, hat ebenso kompakte wie leserunfreundliche Darstellungen zur Folge, die das Buch nachschlagewerk-, aber nicht lesetauglich werden lassen. Wie spannend gerade Mediengeschichte geschrieben werden kann, hat dagegen unlängst Jochen Hörisch mit "Der Sinn und die Sinne" [siehe die Rezension in literaturkritik.de 11/2001] bewiesen. Negativ fallen auch etliche Druckfehler auf, die darauf schließen lassen, dass selbst ein Traditionsverlag wie Alfred Kröner heute am Lektorat sparen muss.

Eine gelungene Einführung in den Journalismus, die weder zur populären Ratgeberliteratur à la "Wir schreiben für die Zeitung" zu rechnen ist, noch sich in der abstrakten Erhellung kommunikationstheoretischer Positionen erschöpft, dennoch aber von den "zwei Kulturen" das Beste präsentiert, hat Dagmar Lorenz in der Reihe "Sammlung Metzler" vorgelegt. In reihenbedingter Komprimiertheit folgt die Autorin in einem ersten, umfangreicheren Teil problemorientierten Gesichtspunkten: So der historischen Herausbildung des Journalistenberufes, der Geschichte der Presse und der modernen Massenmedien. Journalistische Rollenbilder werden ebenso diskutiert wie journalistische Arbeitsauffassungen zwischen den medienethischen Forderungen und Idealen und den realen Arbeitsbedingungen im marktwirtschaftlichen Alltag. Praxisbezogene Sachinformationen stehen im zweiten Teil im Mittelpunkt, der journalistische Textsorten und Arbeitsmethodiken behandelt. Zu kurz ausgefallen, um brauchbar zu sein, ist dagegen der Überblick über Ausbildungswege in den Journalismus, ein Thema, bei dem noch immer konkurrenzlos Walther von LaRoches "Einführung in den praktischen Journalismus" ist.

Kein neues, wohl aber ein seit langem unentbehrlich gewordenes Standardwerk ist das von Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz und Jürgen Wilke herausgegebene "Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation". Seiner Grundkonzeption, das Material nicht in viele kleine Stichworte aufzulösen, sondern in umfangreichen, umfassenden Sachartikeln anzubieten, ist es treu geblieben: Ob "Film", "Medienrecht", "Öffentliche Meinung" oder "Presse" oder "Wirkung der Massenmedien auf die Meinungsbildung": die im Durchschnitt circa 15 Seiten langen Artikel ersetzen durchaus die Lektüre einschlägiger Monographien.

1971 erstmals erschienen, hat das Lexikon inzwischen bereits zwei Neubearbeitungen (1989 und 1994) hinter sich. Die 94er-Ausgabe bildet noch immer die Grundlage für eine eben erschienene aktualisierte Neuauflage, deren Umfang erneut gestiegen ist. Wohl in kaum einem anderen Forschungsbereich der Wissenschaft verändert sich der Objektbereich derart rasant wie in den Medienwissenschaften. Dem entsprechen die Herausgeber mit einigen neuen Artikeln und dem Verzicht auf einige alte. Neu hinzugekommen sind Beiträge zu den Themen "Interpersonale Kommunikation", "Multimedia/Online-Medien", "Persuasion" und "Public Relations/Öffentlichkeitsarbeit". Nicht mehr dabei sind die Beiträge über "Kommunikationstheorien" und "Kommunikationspolitik", eine, gerade was den Überblick über die Veränderung der Theoriearchitektonik angeht, wenig verständliche Entscheidung, die vielleicht mit dem letztlich doch etwas einseitigen Interesse der Herausgeber an der Empirie zusammenhängt. Gleichwohl: An diesem Nachschlagewerk kommt keiner vorbei.

Titelbild

Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar.
UVK Verlagsgesellschaft, Koblenz 2000.
370 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3896692496

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2001.
575 Seiten, 24,60 EUR.
ISBN-10: 3520360012

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dagmar Lorenz: Journalismus.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2002.
205 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3476103374

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Elisabeth Noelle-Neumann / Winfried Schulz / Jürgen Wilke (Hg.): Publizistik Massenkommunikation. Fischer Lexikon. Vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
768 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3596154952

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch